Utöya-Überlebender erinnert sich
23. April 2012Anders Breivik verglich das Leid, das er den Familien seiner Opfer zufügte, mit seiner eigenen Situation: Nach den Anschlägen vom 22. Juli habe auch er den Kontakt zu Freunden und Familie verloren, sagte der norwegische Attentäter am Montag (23.04.2012) vor Gericht. "Der einzige Unterschied war, dass ich es mir so ausgesucht habe", erklärte er. Breivik sagte auch zum wiederholten Mal, die Taten seien "grausam, aber notwendig" gewesen.
Einer, der diese Taten überlebt hat, ist Ali Esbati. Der aus dem Iran stammende schwedische Schriftsteller und Wirtschaftsexperte entkam dem Attentäter auf der norwegischen Fjordinsel Utöya nahe der norwegischen Hauptstadt. Zum Prozessauftakt am 16. April in Oslo sah er den Angeklagten zum ersten Mal seit damals wieder.
Traurig sei das gewesen, sagt Esbati im Gespräch mit der Deutschen Welle: "Man denkt an den ganzen Kummer, der immer wieder hochkommt, an die Menschen, die ihr Leben verloren haben, Eltern, die ihre Kinder verloren haben - dieser Gedanke ist kaum auszuhalten."
Täter ohne Reue
Andererseits habe es gut getan, Breivik in dieser Position zu sehen und nicht mehr so wie damals auf Utöya, "als er mit seinem Gewehr in der Hand drohte, uns umzubringen."
Esbati, einer der bekanntesten politischen Blogger in Schweden, ist am 22. Juli 2011 Gast beim politischen Jugendcamp auf der Insel Utöya. Als die Bombe morgens im Regierungsviertel von Oslo hochgeht, hält er gerade einen Vortrag vor den Jugendlichen.
"Nach dem Vortrag sah ich auf meinem Handy viele verpasste Anrufe und SMS. Viele machten sich Sorgen um mich und ich musste Bescheid sagen, dass es mir gut ging und ich außerhalb von Oslo in Sicherheit war", erinnert sich Esbati.
Eine trügerische Sicherheit, wie sich kurz darauf herausstellt, als er plötzlich Lärm hört: "Ich dachte, es sei ein Feuerwerk oder so etwas. Eine Frau kam hereingerannt, sie war sichtlich in Panik und aufgeregt und sagte, alle sollten sofort den Raum verlassen." Esbati rennt auf Socken aus dem Gebäude, sieht Menschen auf dem Boden liegen, die sich nicht mehr bewegen.
Flucht vor dem Massenmörder
Esbati wagt es nicht, sich schwimmend in Sicherheit zu bringen, läuft über einen schmalen Pfad davon, als er bemerkt, wie sich jemand hinter ihm im Gebüsch bewegt: "Ich drehte mich um und hörte, wie jemand mit ruhiger, aber sehr lauter Stimme sagte 'Polizei – alles ist in Ordnung'."
Es ist Breivik, als Polizist verkleidet, mit hoch erhobenem Gewehr. Esbati läuft davon - und entkommt: "Ich erinnere mich noch gut daran, wie sich meine Muskeln im Rücken verkrampften, weil ich das unbekannte Gefühl erwartete, dass ich von Kugeln getroffen werden würde. Aber mich traf keine Kugel, und als ich mich wieder umdrehte, konnte ich ihn nicht mehr sehen."
Er sieht den Attentäter erst im Gerichtssaal wieder, wo Breivik seine Zeugenaussage dazu nutzt, eine vorbereitete Rede abzulesen. Darin kommen auch Esbati und seine Verlobte Marthe Michelet vor. Die Journalistin befasst sich sich mit Diskriminierung, Rassismus und Islamophobie und arbeitet als Kommentatorin für die norwegische Tageszeitung 'Dagbladet'.
Ideologisches Konstrukt
"Breivik bezeichnete sie als Verräterin. Als Beleg dafür nannte er die Tatsache, dass sie ein Kind mit mir hat. Das Problem ist nämlich, dass ich aus einem muslimischen Land stamme", sagt Esbati. Es zeuge von Breiviks extremen Rassismus, dass in seiner Weltauffassung demografische Themen eine große Rolle spielen. "Das motiviert ihn, und daraus glaubt er, seine Legitimation zu beziehen, die ihn dann angeblich dazu berechtigt, Taten wie diese zu begehen."
So extrem Breiviks Ansichten sind - zu einem gewissen Grad seien sie schon fast gesellschaftsfähig, meint der schwedische Autor: "Sie finden sich immer mehr im öffentlichen politischen Diskurs und der politischen Debatte in Europa wieder."
Um dem entgegenzuwirken, so Esbati, müsse man in Europa lernen, die Gefahr, die von solch einem Rechtsextremismus für die Gesellschaft ausgehe, besser einzuschätzen. Schließlich sei das politische Umfeld, aus dem Breivik stamme, schon vor dem 22. Juli da gewesen und werde auch immer noch da sein, wenn er hinter Gittern sitzt. Und so müsse die Diskussion spätestens dann beginnen, wenn der Prozess vorbei ist - davon ist Ali Esbati überzeugt.