Der Erste Weltkrieg und ich
10. Mai 2014Ein paar Kreidekästchen auf dem Boden und ein Stein oder ein Stück Holz - mehr braucht es nicht für eines der einfachsten Kinderspiele der Welt: Himmel und Hölle. Eda Nur Yilar aus Deutschland hat davon noch nie gehört. "Du kennst das nicht?!", ruft Anton Protason. Der junge Russe hat das Spiel früher auf dem Schulhof gespielt, jetzt erklärt er es Eda. Die zwei werfen, hüpfen, lachen. So wie Kinder es schon vor 100 Jahren getan haben. Genau diesem Lebensgefühl sollen die beiden nachspüren: Wie lebte es sich während des Ersten Weltkrieges? Wie kochte man Kaffee ohne Kaffeepulver? Wie wusch man ohne Waschmaschine? Aber auch: Wie verabschiedete man Ehemann, Vater, Bruder oder Sohn, die an die Front gingen und vielleicht nie wieder zurückkehrten?
Eda und Anton sind Teilnehmer eines Workshops bei #link:http://www.bpb.de/veranstaltungen/format/festival/171612/europe-1414:Europe 14|14#. Auf der Konferenz in Berlin treffen sich 400 junge Menschen aus ganz Europa, von Usbekistan bis Portugal. Noch bis Montag (12.05.) beschäftigen sie sich in Workshops mit dem Ersten Weltkrieg, der 1914 ausbrach. Dabei geht es nicht um eine reine Erinnerungsveranstaltung: Die Teilnehmer sollen herausfinden, was der Krieg heute noch mit ihnen zu tun hat, obwohl die Ältesten gerade mal 25 Jahre alt sind. "Geschichte braucht eine emotionale Beziehung, sonst ist der Mauerfall genauso weit weg wie der Erste Weltkrieg vor 100 Jahren", sagt Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), die das Projekt initiiert hat.
Ein Krieg und viele Perspektiven
Manche Teilnehmer wissen fast gar nichts über den Ersten Weltkrieg. Sie kommen auch, um zu hören, was andere davon erzählen können. Zum Beispiel der Pole Aleksander Rudziński. Sein Urgroßvater diente zunächst als Freiwilliger in der russischen Armee. Zwei Jahre nach dem Ersten Weltkrieg stand er dann auf der anderen Seite und kämpfte für die Unabhängigkeit Polens. Dabei wurde er gefangengenommen, konnte aber fliehen. "Er überlebte, weil er Russisch sprach und hübsch aussah", erzählt Aleksander und grinst. "Er hat mal gesagt, er hatte in jedem Dorf ein Mädchen."
Ganz anders die Geschichte von Ruben Gallé aus Deutschland. Er hat die Tagebücher seines Urgroßvaters dabei, der in Istanbul stationiert war. Der Krieg taucht darin nur am Rande auf. Viel mehr faszinierte den Soldaten die fremde Stadt, die Architektur, die Schiffe, das bunte Gewusel in der Metropole. "Für ihn war der Krieg die erste große Bildungserfahrung seines Lebens", meint Ruben. Genau diese unterschiedlichen Blickwinkel sollen die Teilnehmer bei Europe 14|14 kennenlernen. "Geschichte ist nicht nur ein Ereignis, sondern immer auch Interpretation", sagt Thomas Krüger von der bpb.
Ganz so vielfältig sind die Perspektiven dann aber doch nicht: Viele Teilnehmer haben studiert und kennen die Stiftungen und Netzwerke, die die Veranstaltung unterstützen. "Es ist nicht so einfach, an die Leute heranzukommen", gibt Nina Schillings zu, die das Projekt für die bpb organisiert hat. Aber man versuche, möglichst viele Zugänge zu dem Thema zu bieten: Von der Analyse der filmischen Propaganda bis zur Entwicklung eines Computerspiels ist in den Workshops alles möglich.
Blick zurück nach vorn
Die Veranstaltung zeigt, wie sehr Europa sich nach den beiden Weltkriegen verändert hat. Darauf wies auch Bundeskanzlerin Angela Merkel hin, die am Mittwochabend (07.05.) die Veranstaltung im Berliner Maxim Gorki Theater eröffnete. Immer wieder betonte sie, welches Glück es sei, dass sich die Menschen Europas heute näher stünden als vor 100 Jahren. Die Entwicklungen in der Ukraine seien deshalb bitter: "Das verstößt gegen die Lehren der Geschichte."
Die Teilnehmer von Europe 14|14 hingegen sollten die Geschichte nutzen, um sich auszutauschen, Gemeinsamkeiten zu entdecken. "Look back, think forward" - "Blick zurück nach vorn", lautet das Motto der Veranstaltung. Die Erinnerung soll helfen, eine Perspektive für die Zukunft zu entwickeln. Für Aleksander Rudziński ist das kein Widerspruch: "Das klingt vielleicht etwas seltsam, aber heute, 100 Jahre später, ist der Krieg kein Trauma mehr, sondern er stellt Einigkeit in Europa her, weil jedes Land daran teilgenommen hat."