Deutsche Euro-Debatte immer grundsätzlicher
25. Juni 2012Die Einsprüche aus Karlsruhe kommen in immer kürzeren Abständen. Kein Gesetz im Zusammenhang mit der europäischen Schuldenkrise, gegen das nicht irgendjemand beim dortigen Bundesverfassungsgericht geklagt hätte, und meist haben die Kläger zumindest in Teilen recht bekommen. Zuletzt haben die höchsten deutschen Richter im Februar mehr Mitsprache des Bundestages verlangt und im Juni die unzureichende Information des Parlaments durch die Regierung gerügt.
Am vergangenen Freitag (22.06.2012) kam dann ein Warnschuss neuer Qualität aus Karlsruhe. Über einen Sprecher ließ das Gericht wissen, wenn das Parlament am kommenden Freitag zwei neue Gesetze zur Euro-Rettung verabschiede, werden die Verfassungsrichter Bundespräsident Joachim Gauck bitten, diese nicht sofort zu unterzeichnen. Erst wolle man Zeit haben, die schon angekündigten Klagen gegen den Europäischen Stabilitäts-Mechanismus ESM und den Fiskalpakt zu prüfen. Gauck beeilte sich daraufhin zu erklären, dass er einer solchen Bitte nachzukommen gedenke.
Parlamentarische Kontrolle in Gefahr
Hinter all dem steckt nicht etwa eine grundsätzliche Euro-Skepsis der obersten Richter oder gar eine Rivalität mit dem Europäischen Gerichtshof in Straßburg, über die immer wieder mal spekuliert wird. Bei öffentlichen Auftritten heben die Verfassungsrichter vielmehr immer wieder hervor, wie integrationsfreundlich das Grundgesetz sei. Schon im ersten Satz der Präambel der 1949 beschlossenen Verfassung ist vom Willen die Rede, "in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen". Doch gleichzeitig zieht sich durch das Grundgesetz das Prinzip der Parlamentshoheit, und die sieht das Bundesverfassungsgericht bei den europäischen Maßnahmen zur Krisenbewältigung zunehmend in Gefahr.
Ursprünglich sollte die Europäische Währungsunion mit einer EU-Verfassung einher gehen. Dass diese nicht zustande kam, erweist sich jetzt als verhängnisvoll. Bundeskanzlerin Angela Merkel fordert deshalb schon seit einiger Zeit neue Schritte hin zu einer politischen Union, um der gemeinsamen Währung eine stabilere Grundlage zu geben. Den Fiskalpakt, der die EU-Staaten zu mehr Haushaltsdisziplin verpflichten soll, sieht die Bundesregierung ausdrücklich als Schritt in diese Richtung. Allerdings stellt sich gerade beim Fiskalpakt die Frage, ob er nicht die Haushaltshoheit der nationalen Parlamente aushebelt, ohne sie durch eine vergleichbare parlamentarische Kontrolle auf EU-Ebene zu ersetzen.
Volksabstimmung über neue Verfassung erwartet
Angesichts dieses wachsenden Dilemmas hat Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble am Wochenende in einem Interview die Erwartung geäußert, dass die Deutschen eher früher als später über eine neue Verfassung abstimmen müssen. Wenn immer mehr Souveränität nach Brüssel übertragen werde, seien irgendwann die Grenzen des Grundgesetzes erreicht, sagte der CDU-Politiker dem "Spiegel". Er sprach sich für einen Komplettumbau der EU-Institutionen aus, einschließlich eines direkt gewählten Präsidenten. Vor wenigen Monaten habe er noch gedacht, dass es in fünf Jahren Zeit für eine solche Volksabstimmung sein könnte, sagte Schäuble. Jetzt aber gehe er "davon aus, dass es schneller kommen könnte".
Schäubles Amtsvorgänger Peer Steinbrück stimmte dem zu. Der SPD-Politiker sagte der "Stuttgarter Zeitung", auch er rechne in den kommenden zwei Jahren mit einer Volksabstimmung. "Wer den Verfassungsrichtern aufmerksam zugehört hat, weiß, dass es nicht anders geht." Auch der sozialdemokratische Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Kurt Beck, sprach von einer "richtigen Überlegung". Allerdings müsse ein solcher Schritt "gründlichst" vorbereitet werden. "Das darf am Ende nicht zu einer Anti-Europa-Stimmung führen", warnte Beck im Bayerischen Rundfunk.
Sorge vor Euro-Skeptikern
Derartige Sorgen treiben möglicherweise auch die Liberalen um. FDP-Generalsekretär Patrick Döring sagte am Montag (25.06.2012) nach einer Präsidiumssitzung seiner Partei: "Wir sollten in dieser krisenhaften Situation nicht neue Visionen diskutieren, sondern unsere Währung stabilisieren." Für die FDP könnten Bestrebungen der "Freien Wähler" gefährlich werden, als euroskeptische Kraft bei der Bundestagswahl 2013 anzutreten. Auch Kanzlerin Merkel ging auf vorsichtige Distanz zu Schäuble. Über ihren Sprecher Steffen Seibert ließ sie etwas verklausuliert erklären: "Derzeit stehen diese Schritte von morgen oder übermorgen - eher übermorgen - nicht an."
Wenige Minuten zuvor allerdings hatte Seibert zu erkennen gegeben, dass die Grenzen der Verfassung der Regierung durchaus zu schaffen machen. Er erklärte, die Bundesregierung strebe bei den Parlamentsabstimmungen über den Rettungsfonds ESM ebenfalls eine Zweidrittelmehrheit an. Bisher hatte die Regierung eine solche verfassungsändernde Mehrheit nur für den Fiskalpakt für erforderlich gehalten. So wie wenige Tage zuvor schon Bundestagspräsident Norbert Lammert, begründete Seibert die neue Einschätzung damit, man solle jedem etwaigen Verfassungsrisiko aus dem Weg gehen. Auf welche Grundgesetz-Bestimmung sich die Sorge bezieht, vermochte der Regierungssprecher nicht zu sagen. Es ist wohl einfach der Eindruck, dass man sich auf immer dünnerem Eis bewegt.