Deutschland hat Inventur gemacht
1. Juni 2013Die Deutschen haben den Ruf, immer alles besonders genau zu erfassen, zu vermessen und statistisch zu erheben. Daher verwundert es schon etwas, dass sich eine so grundlegende Zahl wie die der Bevölkerung nun als deutlich niedriger herausstellt als bislang gedacht.
Mit 80,2 Millionen Menschen ist Deutschland zwar immer noch das mit Abstand größte Land der EU, aber gegenüber der bisher gültigen Bevölkerungszahl sind es nun auf einen Schlag rund 1,5 Millionen Einwohner weniger. Eine komplette Metropole von der Größe Münchens ist damit quasi über Nacht verschwunden.
Herausgefunden hat das der sogenannte "Zensus 2011", eine umfassende Volkszählung, für die ein Drittel der Bevölkerung schriftlich oder mündlich befragt wurde. Über 700 Millionen Euro kostete die Aktion. Der eingesetzte Fragebogen umfasste zum Beispiel Fragen zum Familienstand, zum Schulabschluss, zu Beruf und Migrationshintergrund. Zwei Jahre lang wurden die Ergebnisse ausgewertet, so dass die nun veröffentlichten Zahlen auch nicht mehr ganz aktuell sind. Aber immerhin genau sollen sie sein.
Erster Zensus seit der Wende
Seit der deutschen Wiedervereinigung hatte es eine solch umfassende Datenerhebung nicht gegeben. Die bisherigen Angaben beruhen auf den Volkszählungen von 1987 (in der Bundesrepublik) und 1981 (in der DDR). Seitdem wurden die Einwohnerzahlen nur fortgeschrieben und mit Hilfe von Daten zu Geburten, Todesfällen und Ummeldungen aktualisiert.
"Zwischen zwei Volkszählungen werden die Melderegister immer ungenauer und sie führen fast immer zu einer Überschätzung der Zahlen, weil sich viele Leute zwar an der neuen Stelle anmelden, aber nicht an der alten Stelle abmelden", erklärt Gerd Bosbach, Professor für Statistik an der Fachhochschule Koblenz, im Gespräch mit der Deutschen Welle.
Weniger Ausländer als gedacht
Besonders auffällig ist die bislang überschätzte Zahl der in Deutschland lebenden Ausländer. Anstatt der - wie bisher angenommen - 7,3 Millionen Menschen ohne deutschen Pass leben hier nur 6,2 Millionen. Auch dafür ist, so die Statistiker, in erster Linie eine fehlende Abmeldung beim Wegzug aus Deutschland verantwortlich.
Aus den neuen Bevölkerungszahlen ergibt sich eine Vielzahl an Konsequenzen. Für manche Städte und Bundesländer kann der Bevölkerungsrückgang finanzielle Konsequenzen haben, denn Zuschüsse durch den Finanzausgleich werden pro Kopf berechnet. Wer also nach der neuen Statistik überproportional viele Einwohner verloren hat, muss ums Geld fürchten.
Die Zensusdaten können auch den zukünftigen Zuschnitt von Wahlkreisen beeinflussen. Das hätte möglicherweise Konsequenzen für die Wahlchancen bestimmter Kandidaten und Parteien.
Forderung nach mehr Zuwanderung
Auch der Arbeitsmarkt ist von den neuen Zahlen betroffen. Besonders Zahlen der Zu- und Abwanderung stellen sich anders dar als bislang angenommen. "Das bedeutet, dass die Bevölkerung möglicherweise schneller schrumpft als wir das erwartet haben", sagt Herbert Brücker, Professor und Forscher am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg. "Das hat vor allem Auswirkungen auf die Sozialversicherungssysteme."
Für ihn heißt das in der Konsequenz, dass es einen verstärkten Zuzug von ausländischen Arbeitskräften geben muss. "Nicht nur die deutsche Wirtschaft braucht den Zuzug, sondern die Menschen in Deutschland. Irgendwer muss unsere Renten am Ende vom Tag bezahlen. Dafür brauchen wir mehr Arbeitskräfte."
Auch wenn die Auswertung und Veröffentlichung der Zahlen zwei Jahre auf sich warten ließ, ist der "Zensus 2011" noch nicht abgeschlossen. Weitere Daten sind noch in der Auswertung und werden nach und nach bekannt gegeben. Die nächste "Inventur" gibt es in Deutschland 2020. Eine EU-Verordnung schreibt vor, dass nun alle 10 Jahre gezählt werden muss.