"Die Eliten sehen in der indigenen Kultur ein Problem"
30. März 2010Die indigene Völker Lateinamerikas erleben gegenwärtig eine kulturelle und gesellschaftlichen Renaissance, denn sie liefern den Anthropologen im Zeitalter der Globalisierung den Schlüssel zum Verständnis der verschiedenen präkolumbischen Kulturen, so Inés de Castro, die Direktorin des Stuttgarter Linden-Museums.
Neue Forschungsergebnisse, sowohl aus prähispanischen Regionen als auch über lebendige Kulturen, helfen nicht nur bei der Interpretation von archäologischen Funden oder Kodices, so de Castro im Gespräch mit der Deutschen Welle, sie sollten in den Ländern Lateinamerikas als zusätzlicher Reichtum anerkannt werden.
Verleugnete Kulturen
Die indigenen Kulturen werden von den politischen Eliten in den Ländern Lateinamerikas nicht akzeptiert, bedauert die Archäologin, denn die Ureinwohner gelten gemeinhin als Problem und nicht als Glücksfall für die Gesellschaften der Region.
Dennoch "erleben wir zur Zeit eine Wiederauferstehung und ein neues Interesse an den indigenen Kulturen. Es ist an der Zeit, sie nicht mehr aus der Perspektive der 500jährigen Unterdrückung zu betrachten, sondern ihnen eine wichtige Rolle zuzugestehen", fügt de Castro hinzu.
De Castro, die am 1. Februar ihr neues Amt als Direktorin des 1884 gegründeten Linden-Museums in Stuttgart angetreten hat, hebt hervor, dass die "prähispanischen Kulturen bis heute noch viel neue Erkenntnisse liefern. Erstens, weil viele ihrer Traditionen bis heute in Lateinamerika lebendig sind und daraus lassen sich Rückschlüsse auf die Bedeutung von archäologischen Funde und Kodices ziehen."
"Die Archäologie ist der Schüssel zum Verständnis von Kulturen und vor allem auch zum Respekt gegenüber unbekanntern Kulturen. Denn im Zeitalter der Globalisierung rücken uns diese "fremden" Kulturen immer näher", so in Argentinien geborene die Archäologin und Anthropologin.
Europa könne nicht verstehen, warum die indigene Bevölkerung ein Problem für die politischen Eliten in Lateinamerika darstellt. Als Bespiel führt sie Mexiko an: 62 verschiedenen Ethnien leben in dem Land. Doch dieser immense kulturelle Reichtum wird in Mexiko selbst vor allem als Nachteil angesehen.
Multikulureller Raum
Die anthropologische Sammlung des Linden-Museums für Völkerkunde in Stuttgart gilt als eine der bedeutendsten in Europa. Vor allem die Abteilungen Amerika, Afrika und Asien sowie der Südpazifik genießen einen hervorragenden Ruf.
Die Mehrzahlt der Exponate der Amerika-Sammlung stammen aus Peru und Bolivien, von den präinkaischen und Inka-Kulturen, sowie von den Mapuches und den indigenen Völkern Mittelamerikas.
Unter den attraktivsten Exponaten findet sich vor allem farbenprächtiger und exotischer Federschmuck aus dem Amazonas-Becken sowie die Totenmasken aus den präinkaischen Kulturen.
Das deutsche Publikum interessiere sich generell sehr für Geschichte und Archäologie, so Inés de Castro. Gerade die präkolumbischen Kulturen hätten sich dabei in der Vergangenheit als wahre Publikumsmagneten erwiesen, wie z. B. die große Maya-Ausstellung 2007/08. Ein weiterer Höhepunkt werde die Schau "Teotihuacán, Stadt der Götter" sein, die vom 1. Juli bis zum 10. Oktober in Berlin gezeigt werden.
Besonders interssant sind die lateinamerikanischen oder prähispanischen Kulturen, weil sie im Alterrum niemals europäischen Einflüssen ausgesetzt waren, andres als die Römer, Griechen und Byzantiner, die sich wechselseitig beeinflusst hätten, so de Castro. Die präkolumbischen Kulturen Lateinamerikas hätten sich hingegen aus eigener Kraft entfaltet, ohne derartige Einflüsse.
In Deutschland widmen sich besonders die Universitäten Bonn, Berlin und Hamburg der Erforschung der Anthropologie und Archäologie Lateinamerikas, mit bedeutenden Schwerpunkten auf der Maya-Hochkultur.
Präkolumbische Kodices in Europa
Es gebe schätzungsweise 15 prähispanische Kodices, die überwiegend aus de Maya-, Mixteca- und Mexica-Kultur stammen, erläutert Inés de Castro.
Unter den schriftlichen Überlieferung der Mixteken gelten die Kodices "Bodley", "Colombino-Becker", "Nuttall" und "Vindobonensis" sowie "Selden" (aus dem 16. Jhd.) als besonders wertvoll.
Aus der Maya-Kultur gilt unter anderem der Dresdner Kodex als besonders wertvoll. Die Handschrift befindet sich Deutschland. Die drei weiteren erhaltenen Maya-Handschriften befinden sich in Paris, Madrid und Mexiko.
1739 wurde der Codex Dresdensis erworben und befindet sich heute in der Sächsischen Landesbibliothek. Es handele sich dabei um eines der am besten ausgearbeiteten Dokumente aus der präkolumbischen Zeit, mit einem Maya-Kalender und einer Darstellung des numerischen Systems, so Inés de Castro.
"Es ist ein ziemlich komplexer Kodex, der sowohl religiöse als auch astronomische Inhalte aufweist und auf einigen Seiten die Sonnenwende und die Laufbahn des Planeten Venus beschreibt. Was uns jetzt noch fehlt sind Informationen über den religiösen Kalender der Maya und Teil der Wirtschaft jener Zeit, das ist in den Dokumenten nicht enthalten", so die Direktorin des Stuttgarter Linden-Museums.
Die Maya und das Kino
Gefragt nach ihrer Meinung über angebliche Weissagungen, Vorhersehungen oder Interpretationen bezüglich des Maya-Kalenders, die immer wieder als Grundlage für Weltuntergansszenarien herhalten müssen, gibt sich Inés de Castro kritisch. Vor allem distanziert sie sich von den Interpretation des deutschen Hollywood-Produzenten Roland Emmerich, der für Produktionen wie “Independence Day”, “Godzila”, “10.000 AC” y “The Day After Tomorrow” verantwortlich zeichnet.
Es sei "bedauerlich, dass Roland Emmerich derart für Katastrophenfilme schwärmt, in denen es um die totale Zerstörung der Erde geht, wie z. B. in "Independence Day". Die dargestellte Planetenkonstellation hat nichts mit der Maya-Kultur zu tun!"
Gerade um die Bedeutung das Maya-Kalenders und seiner Aussagen weiter zu erforschen werden zurzeit weitere groß angelegte archäologische Untersuchungen durchgeführt, erläutert Inés de Castro, und verweist auf die Grabungen in Calakmul im mexikanischen Bundesstaat Campeche. Hier habe man eine prähispanische Stadt mit über 6.000 Gebäuderesten entdeckt, auf einer Fläche von rund 70 Quadratkilometern. Von großer wissenschaftlicher Bedeutung seien in diesem Zusammenhang auch die Grabungen von Uxul im Süden Mexikos. Hier sei die Universität Bonn dabei, eine topographische Gesamtvermessung der archäologischen Stätte vorzunehmen.
Erst wenn die Vermessung beendet und die Logistik vor Ort aufgebaut ist, so Inés de Castro, könne man mit den Grabungen vor Ort beginnen. Möglich sei das u.a. dank staatlicher Unterstützung aus Deutschland. Trotz der weltweiten Finanzkrise sei das deutsche Interesse an der wissenschaftlichern Erforschung der präkolumbischen Kulturen in Lateinamerika ungebrochen.
Autor: Pedro Matías Arrazola
Redaktion: Mirjam Gehrke