Die große Chance "Kulturhauptstadt"
29. Dezember 2003Genua: Die Wunden der Vergangenheit lecken
"La Superba", die Stolze, nennen die Italiener Genua. Größe und Ansehen verdankt die Hafenstadt ihrer glorreichen Vergangenheit als Seemacht. Doch viele der prachtvollen Paläste in der Stadt des legendären Seefahrers Andrea Doria sind halb verfallen. Genua wirkt - wie andere Hafenmetropolen auch - schmuddelig. Zudem verwüsteten 2001 Globalisierungsgegner während eines G-8-Gipfels die halbe Stadt. Mit rund 170 Millionen Euro wird Genua derzeit zur "Kulturhauptstadt" herausgeputzt. Doch niemand erwartet Wunder.
"Wir können schon zufrieden sein, wenn wir es irgendwie schaffen, Genua international ein neues Image zu verschaffen", sagt Stefano Zara, Präsident des Industrieverbandes. Für die kulturellen Veranstaltungen im Kulturstadt-Jahr gibt es einen Etat von 30 Millionen Euro. Zum Vergleich: Das Veranstaltungsprogramm, das die Mit-Kulturhauptstadt Lille zusammen mit 158 Städten der Region Nord-Pas-de-Calais auf die Beine stellt, soll das Zweieinhalbfache kosten. Warum allerdings Lille und Genua eine Rubens-Retrospektive im Programm haben und sich damit gegenseitig Konkurrenz machen, wird wohl das Geheimnis der Veranstalter bleiben.
Lille: Von der "grauen Maus" zur Hip Town
Martine Aubry, die Bürgermeisterin von Lille und ehemalige Sozialministerin Frankreichs, setzt auf den Kulturstadt-Effekt. "Lille will nicht mehr länger die schwarze und traurige Industriestadt sein", erklärt sie patriotisch. Die barocken Backsteinbauten wurden restauriert, das Opernhaus auf Vordermann gebracht, eine Untergrundbahn bringt die Menschen in die benachbarten Städte. Auch für Didier Fusillier, Direktor von Lille 2004, ist der Titel "Kulturstadt Europas" viel mehr als Marketing und vorübergehendes Prestige. "Das Aushängeschild Kulturstadt Europas erlaubt es, neue Infrastrukturen zu bauen und sich zu entwickeln", sagt er.
Von der grauen Arbeiterstadt ist ohnehin schon nicht mehr viel zu sehen. Stararchitekten wie Rem Kohlhaas prägen das neue Gesicht der Metropole. An die Krise der Textil-, Metall- und Bergbauwirtschaft in den 1960er und 1970er Jahren erinnern nur noch die einstigen Fabriken und Industriehallen, in denen heute Künstler und Designer ihre Atelies haben. Zwölf "Maisons Folies" ("Häuser der Verrücktheiten") - ehemalige Vergnügungshäuser der Aristokratie des 18. Jahrhunderts -, wurden für 80 Millionen Euro renoviert und zu Kulturzentren umfunktioniert. Als Kulturhauptstadt setzt Lille auf Populäres, das die Menschen im Umkreis - Paris, Brüssel, London, Köln - ansprechen soll. "Wir dürfen nicht vergessen, dass drei Autostunden entfernt 100 Millionen Europäer leben", sagt Fusillier. (arn)