Die "Neuen Frauen" der Weimarer Republik
Die Fotografin Annelise Kretschmer war eine der ersten Frauen, die in der Weimarer Republik ein eigenes Atelier eröffneten. Eine Ausstellung im Käthe-Kollwitz-Museum zeigt ihre magischen Porträts.
Annelise Kretschmer - Fotografin und Geschäftsfrau
26 Jahre alt ist Annelise Kretschmer, geborene Silbereisen, als sie 1929 im zweiten Stock ihres Elternhauses in Dortmund ein Fotoatelier eröffnet - als eine der ersten Frauen in Deutschland. "Ich wollte eine Familie, aber zugleich auch meinen Beruf weiterführen", erzählt sie in einem Interview 1982. "Auch nach der Heirat war es mir selbstverständlich, weiter zu arbeiten".
Hochzeit mit Sigmund Kretschmer - moderne Ehe mit einem Künstler
In Dresden hat Annelise 1927 den Bildhauer Sigmund Kretschmer kennen- und lieben gelernt, 1928 heiratet sie ihn. Vier Kinder bekommt das Paar, um die sich meist der Vater kümmert. Eine ungewöhnliche Arbeitsteilung für die 1930er Jahre: Eine Frau als Alleinverdienerin, die mit den Einnahmen aus ihrem Atelier die Familie ernährt. Ab und zu greifen auch ihre Eltern finanziell unter die Arme.
Reise nach Paris: Suche nach ungewöhnlichen Perspektiven
Nach ihrer Ausbildung in Dresden reist Annelise Kretschmer nach Paris. Die französische Hauptstadt ist das quirlige Zentrum der Avantgarde-Fotografie in den 1920er Jahren. Abseits der Touristenströme sucht sie eigene Motive und neue Perspektiven: verfallene Hinterhöfe, heruntergekommene Fassaden. Sie nimmt Details und Strukturen in den Fokus, wie bei diesem Foto, der Treppe zu Sacre Coeur.
Frisch und selbstbewusst: Die "Neuen Frauen" der Weimarer Republik
Nach dem Ende des Deutschen Kaiserreiches weht in den 1920er Jahren ein frischer Wind: Frauen dürfen seit 1919 wählen, sie arbeiten, wollen mitreden und mitgestalten. Dieses Selbstbewusstsein zeigt sich auch modisch: Lange Zöpfe kommen ab, kurze Haare sind chic. Annelise Kretschmer fotografiert diese "Neuen Frauen", mit Bubikopf und coolem Blick. Frauen, wie sie selbst.
Fotografin der Dortmunder Gesellschaft
Auch die 25-jährige Opernsängern Ellice Illiard kommt Annelise Kretschmer vor die Linse. 1930 porträtiert sie die Berliner Koloratursopranistin in ihrem Atelier in Dortmund. Im gleichen Jahr wird Annelises Tochter Tatjana geboren, zwei Jahre später der Sohn Michael. 1938 kommt Nina und 1940 die jüngste Tochter, Christiane, auf die Welt. Von ihrem Fotoatelier lebt jetzt eine sechsköpfige Familie.
Sinnliche Momente und eine drohende Gefahr
Annelises Mann Sigmund Kretschmer 1934 - eingefangen in einem privaten Moment. Ein Jahr zuvor sind in Deutschland die Nazis an die Macht gekommen. Als Halbjüdin muss Annelise aus der "Gesellschaft Deutscher Lichtbildner" austreten, ihr Schaufenster wird beschmiert. Bis sie der Deutschen Arbeitsfront, der DAF beitritt. 1936 macht sie ihre Meisterprüfung und bildet fortan Lehrlinge aus.
Lieblingsmotive: Frauen, Kinder und die Familie
Kinder gehören zu ihren Lieblingsmotiven: Hier hat sie 1943 ihre Tochter Nina fotografiert. Über Jahre hinweg porträtiert sie die Familienmitglieder immer wieder. Auch nach 1938, als Mann und Kinder in die Künstlerkolonie Worpswede gezogen sind, wo sie Freunde haben. Annelise arbeitet weiter im Dortmunder Atelier und nimmt außerdem Aufträge von Zeitschriften und Magazinen an.
Fotografie als Kommunikation
Fotografie ist für Annelise Kretschmer ein Mittel, Menschen nahe zu kommen. Sie möchte sie "zu einer Selbstdarstellung bewegen, in der die wesentlichen Charakterzüge zum Ausdruck kommen", erzählt sie in einem Interview 1982. Sie verzichtet auf Requisiten. Oft gelingen ihr die besten Fotos ganz am Anfang, wenn die Porträtierten noch gar nicht auf die Aufnahme gefasst sind.
Zuflucht in der Künstlerkolonie Worpswede
Bauernkinder im Dorf Worpswede in Niedersachsen, in der Nähe von Bremen. 1889 hatte eine erste Generation von Künstlern die Künstlerkolonie Worpswede gegründet. Das weite, flache Land, die faszinierend karge Landschaft und die frische Luft zogen seitdem immer wieder Künstler und Sinnsuchende hierher. Bei ihren Familienbesuchen fotografiert Annelise Kretschmer auch oft Dorfbewohner.
Gesichter mit Lebenslinien
Annelise Kretschmer nimmt sich Zeit für die Bilder, möchte das Vertrauen der Porträtierten gewinnen. Nur so kann sie ihnen so nahe kommen, wie auf diesem Bild einer alten Bäuerin in Worpswede 1937. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 wird auch Dortmund bombardiert. So oft wie möglich fährt Annelise zur Familie nach Worpswede aufs Land.
Neubeginn nach dem Krieg
1944 wird das Dortmunder Atelier von einer Bombe getroffen, die Familie zieht zu Annelises Mutter nach Baden-Württemberg, in die Nähe von Freiburg. Gerne würden sie hier bleiben, aber es gibt nicht genug Kunden. 1950 kann das Atelier in Dortmund wieder eröffnet werden. Ein Jahr zuvor flirtet die deutsch-schweizerische Kinderbuchautorin Bettina Hürlimann-Kiepenheuer mit Annelises Kamera.
Aus dem Atelier in die Welt
Seit Ende der 1950er Jahre arbeitet Annelise Kretschmer mit ihrer jüngsten Tochter Christiane zusammen, ihr Mann Sigmund stirbt 1953. Ihre Kunden kommen aus Wirtschaft, Industrie und Kultur (wie 1963 der Maler Walter Drexel), ihre Fotos werden auf internationalen Ausstellungen gezeigt. 1978 gibt sie das Atelier auf. 1987 stirbt Annelise Kretschmer mit 84 Jahren in ihrer Heimatstadt Dortmund.