Ein kleines bisschen Symbolpolitik
20. Mai 2015Mittlerweile, könnte man sagen, wird fast jeden Tag in Ägypten die Todesstrafe verhängt: Erst vor ein paar Tagen etwa gegen den ehemaligen Machthaber Mohammed Mursi, der gemeinsam mit mehr als 100 Mitangeklagten von einem Gericht zum Tode verurteilt wurde. Hinzu kommen, so Stephan Roll, über 40.000 politische Gefangene und Berichte von Menschenrechtsorganisationen, die Folter, sogar sexuelle Gewalt, in ägyptischen Gefängnissen beschreiben. Kurz: In Ägypten herrscht "ein unglaubliches Maß an Repression", so fasst es der Ägyptenexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin zusammen. Und: Die Menschenrechtslage werde unter dem Regime von Abdel Fattah al-Sisi täglich schlimmer.
Mursi war nach dem Sturz Mubaraks im Februar 2011 der erste demokratisch gewählte Präsident Ägyptens, im Juli 2013 wurde er vom Militär entmachtet. Nach Mursis Absetzung kam der heutige Staatschef Abdel Fattah al-Sisi an die Macht. Seitdem der ehemalige Armeechef regiert, wurden mehr als 1400 Mursi-Anhänger getötet und mehr als 15.000 weitere inhaftiert - oft in Massenprotesten, bei denen im Schnellverfahren hunderte Islamisten zum Tode verurteilt wurden.
"Systematische Verfolgung, unfassbare Anzahl von Todesurteilen"
Deshalb findet Roll die Entscheidung des Bundestagspräsidenten Norbert Lammert, ein geplantes Treffen mit Sisi, der Anfang Juni Berlin besucht, abzusagen, "absolut richtig." Der CDU-Politiker begründet seine Absage mit der aktuellen Entwicklung im Land. Statt der seit langem erwarteten Terminierung von Parlamentswahlen, heißt es in einer am Dienstag verbreiteten Pressemitteilung, "erleben wir seit Monaten eine systematische Verfolgung oppositioneller Gruppen mit Massenverhaftungen, Verurteilungen zu langjährigen Haftstrafen und einer unfassbaren Anzahl von Todesurteilen." Angesichts dieser Situation sehe er "derzeit für ein Gespräch keine Grundlage", heißt es weiter.
Eine Entscheidung, die die ägyptische Menschenrechtsaktivistin Laila Soueif im Gespräch mit der DW begrüßt. Bislang, so Soueif, hätten viele in Europa die schlechte Menschenrechtslage ignoriert. "Es freut mich, dass sie jetzt vielleicht doch merken, was hier geschieht."
Merkel hatte Al-Sisi im September für die Zeit nach der damals geplanten Parlamentswahl in Ägypten eingeladen. Nachdem ein ägyptisches Gericht die Wahl verschoben hatte, betonte ein Regierungssprecher im März, die Bundesregierung wolle das Gespräch mit dem ägyptischen Präsidenten dennoch nicht weiter aufschieben. Als Grund nannte er die angespannte Situation in der Region.
Gauck und Merkel halten an Treffen fest
Trotzdem hält die Bundesregierung weiterhin an dem Treffen mit al-Sisi fest. "Die Einladung hat Bestand, sie steht", teilte der Sprecher der Kanzlerin, Steffen Seibert, am Mittwoch in Berlin mit. Ägypten sei ein "unheimlich wichtiger Akteur" im gesamten arabischen Raum. Es sei richtig, "trotz unserer klaren Ablehnung der Todesurteile, den Gesprächsfaden weiter zu spinnen." Es gebe, so auch der Sprecher des Auswärtigen Amtes, eine ganze Reihe von Dossiers, "in denen wir nicht einer Meinung sind." Diese würden "vertraulich hinter den Kulissen besprochen." Gleichzeitig verwies er auf die öffentlich geäußerte Kritik des Außenministers Frank-Walter Steinmeier etwa an den Todesurteilen gegen Mursi oder dem Umgang mit den deutschen politischen Stiftungen in Ägypten.
Auch Bundespräsident Joachim Gauck will nach Angaben einer Sprecherin wie geplant den ägyptischen Präsidenten treffen.
Eine Entscheidung, die Stephan Roll bedauert. Denn letztlich werde der Besuch al-Sisi stärken, "ob man will oder nicht." Der ägyptische Präsident werde dadurch Bilder bekommen, die er innenpolitisch nutzen könne. Jegliche kritische Töne, die die Bundesregierung in den Gesprächen anschlage, "werden in den ägyptischen Medien und der ägyptischen Öffentlichkeit nicht rüberkommen", fürchtet Roll.
Ägypten sucht westliche Anerkennung
So hätten ägyptische Medien bereits verlautbart, dass al-Sisi sowieso nie vorgehabt hätte, Lammert zu treffen, die Absage also gar nicht problematisch sei. Letztlich, davon ist Roll überzeugt, müsste der Berlin-Besuch verschoben oder gar abgesagt werden, "damit in Ägypten tatsächlich wahrgenommen wird, dass die Bundesregierung ein großes Problem mit der gegenwärtigen politischen Lage in Ägypten hat."
Würde solch ein Schritt denn überhaupt Einfluss auf die ägyptische Politik haben? Möglicherweise, glaubt Roll: Das Regime suche die Anerkennung der großen westlichen Staaten, auch Deutschland. Denn mit dem Besuch könne internationalen Investoren, die das Land dringend braucht, ein Zeichen gesetzt werden: "Ihr könnt in Ägypten investieren, wir gehören dazu, unsere Regierung ist anerkannt."
Und dafür bietet der Berlin-Besuch, trotz aller Kritik hinter den Kulissen, möglicherweise die geeignete Bühne.