Großes Kino: 24. Europäischer Filmpreis
4. Dezember 2011Vielleicht sollten sich die europäischen Politiker ein Beispiel nehmen. Wo in Brüssel und Straßburg, in Berlin, Paris und in den anderen Metropolen des Kontinents gerade verzweifelt um Einheit gerungen wird, da ist sich das europäische Kino einig. In der Vielfalt liegen die Kraft und die Stärke. Die verschiedenen Kinonationen existieren nebeneinander, befruchten sich gegenseitig und arbeiten oft reibungslos zusammen. Der 24. Europäische Filmpreis war ein Beweis dafür.
Mangelndes Selbstbewusstsein
Nur mit der Selbstwahrnehmung und der Vermarktung hapert es noch. Der Europäische Filmpreis steht immer noch im langen, dunklen Schatten der Oscars. Sicherlich ist der amerikanische Filmpreis "Oscar" wesentlich älter und kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Und Hollywoodfilme dominieren schließlich auch den Weltmarkt. Das tun europäische Filme nicht oder zumindest nur selten. Doch an künstlerischer Qualität und Vielfalt, an politischem Engagement und gesellschaftlicher Relevanz sind sie den heutigen Hollywood-Filmen inzwischen weit überlegen.
Das bewies die Preisverleihung in Berlin. Sechs Filme hatten sich in diesem Jahr um den Hauptpreis "Europäischer Film des Jahres" beworben, und alle sechs bieten phantastisches Kino und werden in Erinnerung bleiben. Eine solch starke Auswahl hat das amerikanische Hollywood-Kino bei der alljährlichen Preis-Gala schon seit Jahren nicht mehr zu bieten gehabt. Wichtiger als der Preisträger - "Melancholia" von Lars von Trier hatte am Ende die Nase vorn und bekam drei "Europäische Filmpreise": für den besten Film, die beste Kamera und das beste Szenenbild - ist somit auch der Blick auf die sechs nominierten Filme. Stehen diese doch beispielhaft für den blühenden Filmkontinent Europa.
Regie-Enfant Terrible Lars von Trier
Der Däne Lars von Trier, eine komplizierte Persönlichkeit und oft ein die öffentliche Provokation suchender Regisseur, ist ein begnadetet Filmemacher. Seit Jahren wechselt er die Genres, überrascht immer wieder Zuschauer und Publikum, heimst Preise bei Festivals ein, ist an den Kino-Kassen erfolgreich. "Melancholia", ein düsteres, geheimnisvolles Werk, voller Anspielungen und Verweise auf philosophische Fragen, ist ein herausragendes Kunstwerk. Nicht für jedermann zugänglich, aber ohne jeden Zweifel ein würdiger Preisträger.
Von Trier hat mit einigen anderen Regisseuren das kleine Dänemark seit Jahren auf den Karten des europäischen Kinos verzeichnet. Auch Susanne Bier, Regisseurin und Landsfrau von Triers, ist seit langem eine anerkannte Filmemacherin, Oscarausgezeichnet, und mit ihrem neuen Werk "In einer besseren Welt" ebenfalls für den besten Film nominiert worden. Sie erhielt schließlich die Regie-Auszeichnung. Auch das eine gute Entscheidung.
Finnen, Franzosen, Belgier...
Leer dagegen gingen der Finne Aki Kaurismäki ("Le Havre") und der Franzose Michel Hazanavivicius ("The Artist") aus, sieht man einmal von der Auszeichnung für die beste Musik für "The Artist" ab. Doch auch sie müssen sich nicht grämen. Beide haben wunderbare Filme vorgelegt, der eine eine verträumt poetische Meditation über Migrantenschicksale, der andere eine liebevolle Hommage an die Welt des Film und des Kinos. Die belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne bekamen den Preis für das beste Drehbuch ("Der Junge mit dem Fahrrad"). Auch sie sind seit Jahren auf den großen Festivals der Welt zu Hause, gehören zum Beispiel zum erlesenen, kleinen Kreis von Regisseuren, die bereits zweimal die Goldene Palme von Cannes bekamen. Schließlich konnte sich auch der Brite Tom Hooper als Gewinner des Abends fühlen. Für sein bereits mehrfach Oscargekröntes Königsdrama "The King's Speech" bekam er drei Europäische Filmpreise, darunter den Publikumspreis.
Sechs Filme, sechs großartige und dabei ganz verschiedene Werke - das war in diesem Jahr ein starkes Lebenszeichen des europäischen Films. Nimmt man noch Deutschland hinzu, das den Preis für den besten Dokumentarfilm bekam ("Pina" von Wim Wenders), sowie andere europäische Länder wie Spanien und Italien, an die Nebenpreise gingen, so kann man konstatieren, dass Europas Kino blüht und gedeiht. Was die Vielfalt betrifft, die verschiedenen Stile, die vollkommen unterschiedlichen künstlerischen Ausprägungen von Regisseuren wie Lars von Trier, Mika Kaurismäki oder Wim Wenders, braucht man sich um den Kinokontinent Europa keine Sorgen zu machen.
Mangelnde öffentliche Wahrnehmung
Alles eitel Sonnenschein also? Nein. Woran es hapert im "Kinoland Europa", ist die öffentliche Wahrnehmung. Wenn man sich in Erinnerung ruft, wie stark der Oscar in der Bevölkerung, in der öffentlichen Wahrnehmung, verankert ist, muss man sich schon fragen, warum Europa hier nicht selbstbewusster auftritt. Die Oscars werden jedes Jahr schon Wochen vor der Verleihung in sämtlichen Presseorganen, auf dem Boulevard, in der Klatsch-Presse und im Fernsehen besprochen und zelebriert. Davon kann beim Europäischen Filmpreis kaum die Rede sein. Zum Beispiel schaffen es die öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland nicht einmal, die Zeremonie, die doch im eigenen Land stattfindet, live im Fernsehen zu übertragen. "Mehr Selbstbewusstsein, Europa!", möchte man all denjenigen zurufen, die sich immer noch schwer tun mit den Europäischen Filmpreisen. Europa, Du hast die besseren Oscars!
Autor: Jochen Kürten
Redaktion: Julia Elvers-Guyot