FDP in der Krise: Generalsekretär Djir-Sarai tritt zurück
29. November 2024Das war eine der kürzesten Rücktrittserklärungen im politischen Berlin. Sie dauerte keine Minute. Am späten Freitag Vormittag zieht FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai die Konsequenzen aus einem Skandal, der die Glaubwürdigkeit der Partei schwer erschüttert hat. "Ich habe unwissentlich falsch über ein internes Dokument informiert. Das war nicht meine Absicht, da ich selbst keine Kenntnis von diesem Papier hatte", sagte Djir-Sarai. Er habe weder von der Erstellung noch von der inhaltlichen Ausrichtung Kenntnis gehabt, erklärte der 48-jährige Generalsekretär. Er gilt als enger Vertrauter von Parteichef und Ex-Finanzminister Christian Lindner.
In einer Pressemitteilung dankte Lindner seinem ehemaligen Generalsekretär für die "freundschaftliche Zusammenarbeit". Das öffentlich kursierende Papier sei lediglich ein "Entwurf" gewesen, den er persönlich "nicht zur Kenntnis genommen" habe. Er hätte, so Lindner, "es auch nicht gebilligt".
Am Donnerstag war ein genaues Ausstiegsszenario der FDP aus der ehemaligen Berliner Regierungskoalition mit SPD und Grünen von der FDP selbst öffentlich gemacht worden. Die Jugendorganisation der Liberalen hatte daraufhin den Rücktritt des Generalsekretärs gefordert. Djir-Sarai hatte immer wieder betont, er kenne kein derartiges Papier. Dabei blieb er auch nach seinem Rücktritt.
Albrecht von Lucke bezweifelt, dass das Papier lediglich intern bekannt war und der Generalsekretär davon keine Kenntnis hatte. "Wenn Herr Djir-Sarai bis zum Schluss behauptet, er habe davon nichts gewusst, dann ist das entweder dreist gelogen, oder es bringt zum Ausdruck, dass die FDP das, was in ihrem Haus passiert, nicht im Griff hat", sagt der Redakteur der Fachzeitschrift "Blätter für deutsche und internationale Politik" im Gespräch mit der DW.
Am Donnerstag ging die Parteiführung in die Offensive. Sie publizierte auf ihrer Homepage einen Strategieplan, der detailliert den Ausstieg der Partei aus der Koalition mit SPD und Grünen skizziert. Zugänglich war das Papier nun für jedermann. Auf acht Seiten wird unter der Überschrift "D-Day Ablaufszenarien und Maßnahmen" darlegt, wie die FDP aus der Regierungskoalition aussteigen wollte.
Der "D-Day"-Ausstiegsplan
Auch der Zeitplan stand offenbar: "Der avisierte Ausstieg zur Mitte der KW 45 (4.11.-10.11.)" ist dort festgehalten. Bislang hatte die Parteiführung bestritten, dass ein detailliertes Drehbuch zum Ausstieg aus der zerrütteten Koalition existiere. Mehrere deutsche Medien hatten schon vor zwei Wochen berichtet, dass es Treffen zur Vorbereitung des Ausstiegs gegeben habe. Offenbar war der Druck auf die Partei zu groß geworden, und sie entschied sich zur Veröffentlichung des Planes, den der Bundesgeschäftsführer Carsten Reymann erarbeitet haben soll. Auch er ist von seinem Amt zurückgetreten.
Albrecht von Lucke bezeichnet diese Strategie der FDP als durchdacht und konsequent. "Die FDP hat klug die Flucht nach vorne angetreten, denn sie wusste zweierlei: Erstens, das Papier würde sowieso in Kürze auftauchen. Und zweitens: Um so weiter es vom Tag der Wahl entfernt ist, desto größer die Chance, dass das bis Mitte Februar wieder vergessen ist." Am 23. Februar wird in Deutschland voraussichtlich ein neuer Bundestag gewählt.
Lange hatte sich die Parteiführung gegen den Vorwurf zur Wehr gesetzt, in FDP-Kreisen sei in Bezug auf das Ende der Koalition von "D-Day" oder "Feldschlacht" die Rede gewesen. Aber genau diese martialischen Begriffe tauchen in dem Papier auf. Der nun zurückgetretene Generalsekretär hatte noch am 18. November behauptet, dass er nicht von einem Papier wisse, in dem der Begriff auftauche.
Als "D-Day" wird der 6. Juni 1944 bezeichnet. Es war der Auftakt der Befreiung Europas von den Nationalsozialisten durch die Alliierten, die Landung tausender Soldaten an der Küste der französischen Normandie. Zur Streitmacht gegen die Nazis gehörten damals vor allem US-Amerikaner, Briten, Kanadier, Polen und Franzosen. Der Tag steht aber auch für unmenschliches Blutvergießen, zehntausende Tote und Verwundete. In dem FDP-Papier wird eine sogenannte Phase IV als "Beginn der offenen Feldschlacht" beschrieben.
Der Kanzler war schneller
In dem Papier wird außerdem genau dargelegt, mit welchen PR- und Social-Media-Kampagnen der Ausstieg begleitet werden sollte. Redebeiträge für "CL", wie es weiter heißt, waren vorformuliert. "CL" steht in der Partei gemeinhin als Abkürzung für Christian Lindner, den Parteichef und ehemaligen Finanzminister.
Der Plan griff dann doch nicht, weil Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am 6. November Christian Lindner als Minister entließ. Er war damit offenbar dem Plan der FDP zuvorgekommen. Scholz selbst war auf das Ende der Koalition ebenfalls vorbereitet. Schon seit dem Sommer kursierten offenbar auch in der SPD Ausstiegspläne. Scholz hielt Finanzminister Christian Lindner nach dessen Entlassung öffentlich eine harsche Standpauke, die er vom Teleprompter ablas. Diese Rede war ebenfalls von langer Hand im Kanzleramt vorbereitet worden. Es war das Ende der Regierungskoalition. Die Folge: Aus der Regierungspartei FDP wurde eine Oppositionspartei; SPD und Grüne regieren nun zunächst in einer Minderheitsregierung weiter, am 23. Februar wird wohl ein neuer Bundestag gewählt.
War doch nur ein "Arbeitspapier", sagt die FDP
Die FDP-Führung versucht zu beschwichtigen, bezeichnet das Dokument als "Arbeitspapier". Die Partei- und Fraktionsführung habe das Papier niemals zuvor zur Ansicht erhalten. "Dieses technische Papier ist kein Gegenstand der politischen Beratung von gewählten Mandatsträgern und Regierungsmitgliedern gewesen, sondern eine rein interne Vorbereitung für das Szenario eines Ausscheidens der FDP aus der Ampel-Koalition", heißt es bei der FDP.
Blankes Entsetzen bei den ehemaligen Koalitionspartnern
Doch die ehemaligen Koalitionspartner sind entsetzt. SPD-Generalsekretär Matthias Miersch warf der FDP-Führung vor, die Öffentlichkeit wiederholt getäuscht zu haben, und forderte eine Entschuldigung von FDP-Parteichef Christian Lindner. Dass die FDP den Begriff "D-Day" benutzt habe, nannte Miersch "zynisch".
Nach dem Rücktritt von FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai nannte Miersch den Schritt gegenüber der Deutschen Presseagentur ein "durchschaubares Bauernopfer, um die Verantwortung von FDP-Chef Christian Lindner abzulenken".
SPD-Parteichef Lars Klingbeil schreibt bei X, es sei gut, "dass alles herauskommt und die Bürger sich ein Bild machen können". Vizekanzler Robert Habeck von den Grünen schreibt: "Mein Amtseid lautete, meine Kraft dem Wohle des Volkes zu widmen – und nicht dem Wohle einer Partei."
FDP-Chef Christian Lindner hingegen bemühte sich noch vor dem Rücktritt der beiden FDP-Spitzenpolitiker um Beschwichtigung. Der Zeitung "Rheinische Post" sagte er: "Hier ist ein Papier im Entwurfsstadium, das Mitarbeiter verfasst haben, in die Öffentlichkeit gebracht worden."
Stammklientel könnte die FDP bei der Bundestagswahl retten
Der Rücktritt des Generalsekretärs und des Bundesgeschäftsführers sowie die Veröffentlichung des Strategieplans treffen die FDP in einer Phase der Schwäche. Im Wahlkampf liegt sie derzeit in den Umfragen bei drei bis vier Prozent. Politikexperte Albrecht von Lucke glaubt jedoch nicht, dass die Krise der FDP bei der kommenden Wahl erheblich schaden werde.
Er sagte der DW: "Es gibt eine Klientel, die genau wie die FDP der Meinung ist, dass diese Ampel möglichst schnell beendet werden musste." Von Lucke ist der Meinung, die FDP werde es wohl mit ihrer Stammklientel bei der Wahl über die notwendige Fünf-Prozent-Hürde schaffen, um in den Bundestag einziehen zu können.