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"Frankfurter Küche": Revolution für die Hausfrau

27. Dezember 2024

Vor etwa 100 Jahren noch war die Arbeit in der Küche umständlich und ineffizient. Doch dann hatte eine Wiener Architektin eine bahnbrechende Idee, die bis heute Bestand hat: Sie erfand die Einbauküche.

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Eine Frau mit Schürze steht in einer Einbauküche und backt
Die Einbauküche war ursprünglich ein Instrument des sozialen Fortschritts Bild: Dodenhoff/akg images/picture alliance

"Hätte ich gewusst, dass ich ein Leben lang über diese verdammte Küche reden muss, dann hätte ich sie nie gebaut!", sagte die 100-jährige Margarete Schütte-Lihotzky 1998 in einem Interview. Mit dieser "verdammten Küche" hat sie Architekturgeschichte geschrieben und das Leben von Hausfrauen revolutioniert. Sie gilt heute - 100 Jahre danach - nicht nur als Pionierin der sozialen Architektur. Sie war auch Aktivistin in der Frauenbewegung und wurde als Heldin des Widerstands gegen die Nazi-Diktatur gefeiert. Zeitlebens war es das Ziel von Margarete Schütte-Lihotzy mit ihrer Arbeit das Leben anderer Menschen zu verbessern - mit sozialem Wohnungsbau und mit ihrer berühmtesten Erfindung, der "Frankfurter Küche".

 "Frankfurter Küche"
Die "Frankfurter Küche" im Germanischen Nationalmuseum stammt aus der 1927 gebauten Römerstadt-SiedlungBild: dpa/picture alliance

Gegen das Elend

Wir springen ans Ende des 19. Jahrhunderts. Die industrielle Revolution hat eine gewaltige gesellschaftliche Umwälzung gebracht. Die Fortschritte in Technologie und Wissenschaft sind rasanter als je zuvor. Die Bevölkerung wächst schnell. Viele Menschen ziehen vom Land in die Städte, um in den neuen Fabriken zu arbeiten. Die Lebensbedingungen in den überfüllten Städten sind geprägt von mangelnder Hygiene, Krankheiten und Armut.

Schwarz-Weiß-Foto von zwei kleinen Kindern. Sie stehen neben einem Herd in einem engen Raum, neben ihnen hängt Wäsche
Österreich um 1930: Kinder leben in einem Elendsquartier in WienBild: ÖNB-Bildarchiv/picturedesk/picture alliance

Einen besonderen Blick auf das Elend der Menschen hat die junge Wiener Architekturstudentin Margarete Schütte-Lihotzky: 1917 recherchiert sie für einen Architekturwettbewerb. Bevor sie eine Wohnanlage für Arbeiterfamilien entwirft, besucht sie überfüllte Mietskasernen. Sie will verstehen, was die Bewohnerinnen und Bewohner wirklich brauchen.

Das damalige Umdenken in der Architektur - weg vom dekorativen Baustil zu einer "Neuen Sachlichkeit" - spielte ihr in die Karten. Wichtigster Aspekt dieses neuen Bauens war die Funktionalität. Und genau diese Philosophie, "form follows function", vertrat Margarete Schütte-Lihotzky in ihren Entwürfen. Architektur war für sie immer eng mit dem realen Leben und all seinen sozialen Problemen verbunden. Diese Einstellung hatte viel mit ihrer Herkunft zu tun.

Margarete Schütte-Lihotzky, Porträt um 1935.
Margarete Schütte-Lihotzky war eine der ersten Frauen, die Architektur studiertenBild: brandstaetter images/Austrian Archives/picture-alliance

Soziales Bewusstsein

Margarete Schütte-Lihotzky wurde 1897 in eine gutbürgerlich-intellektuelle Wiener Familie hineingeboren. Ihre Kindheit war geprägt von Kunst und Kultur, aber auch von Politik. Ihre Mutter hatte Kontakt zur Wiener Kunstszene, aber auch zu pazifistischen und feministischen Kreisen und engagierte sich sozial. Das bekam Margarete schon früh mit. Und so war sie bereits als junges Mädchen politisch interessiert und schaute über ihren gesellschaftlichen Tellerrand hinaus. Sie war sich bewusst, dass es vielen Menschen nicht so gut ging wie ihr. Dies alles prägte Margarethes Verständnis für Kunst, Design und Architektur. Es bescherte ihr schließlich auch den Gewinn des Wettbewerbs, für den sie sich in die Wiener Armenviertel begeben hatte.

Im Gegensatz zur gerade in Weimar gegründeten Bauhaus-Schule, wo es außer um Funktionalität auch um Designkunst ging, beschränkte sich Margarete auf die reine Funktion ihrer Entwürfe. Das machte die Herstellung und Vervielfältigung ihrer Kreationen einfach und kostengünstig - egal ob es sich um Wohnanlagen oder um Möbel handelte.

Häuserreihe mit vier Stockwerken, Sprossenfenstern und Balkonen, davor Gärten und Hecken.
Eine Siedlung des "Neuen Frankfurt"Bild: dpa/picture alliance

Auftrag aus Frankfurt

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde im zerstörten Europa dringend Wohnraum benötigt, schnell und kostengünstig. Überall entstanden Neubausiedlungen mit Sozialwohnungen für die weiter wachsende Arbeiterklasse und für solche, die im Krieg ihre Wohnungen verloren hatten.

In Frankfurt am Main legte Baudezernent Ernst May das Wohnungsbauprogramm "Neues Frankfurt" auf. Sein Ziel: die Beseitigung der Wohnungsnot in nur zehn Jahren. May beauftragte Margarete Schütte-Lihotzky, die bekannt war für ihre pragmatischen Konzepte, mit dem Entwurf einer passenden Küche. Diese Küche sollte den begrenzten Platz in den Neubauten optimal nutzen und gleichzeitig den Alltag der Bewohner verbessern.

Margarete, inzwischen Ende 20, machte sich an die Arbeit. Sie maß aus, rechnete und kalkulierte: Wie viele Schritte muss die Hausfrau gehen, um von A nach B zu gelangen? Wie bewegt sie sich? Wo sind die benötigten Gegenstände? Wie kann sie - während ihrer Küchenarbeit - die Kinder im Auge behalten?

Eine Küchenzeile in Weiß mit Schränken, Regalen und einer kleinen Arbeitsfläche
Der Vergleich mit einem Labor liegt nahe: Hier zählt nur Funktionalität. Die einzelnen Komponenten richteten sich nach der Größe des Küchenraums.Bild: Sothebys Deutschland/picture alliance/dpa

Von einer Frau für Frauen

Heraus kam dies: Ein 3,44 Meter langer und 1,96 breiter Raum mit Glasschiebetüren, die den Blick ins Wohnzimmer freigaben, und einem großen Fenster an der Kopfseite. In diese Maße, die für alle neu gebauten Frankfurter Wohnungen gleich waren, sollte Margaretes Küche genau hineinpassen. Ihre einzelnen Module sollten in großer Zahl industriell gefertigt werden: Schränke vom Boden bis zur Decke, eine Arbeitsplatte, eine Spüle mit Abtropfgitter, Schubladen für Küchenabfälle und Aluminiumschütten für die wichtigsten Kochzutaten. Um die anfängliche Skepsis gegenüber dieser neuartigen Küche ausräumen, wurde kräftig die Werbetrommel gerührt. Baudezernent Ernst May höchstpersönlich propagierte Margaretes Erfindung als "von einer Frau für Frauen gebaut".

Schubladen einer "Frankfurter Küche" im Museum für angewandte Kunst
In diesen Schubladen findet alles seinen Platz Bild: Fabian Sommer/dpa/picture alliance

Die "Frankfurter Küche" war geboren, und sie revolutionierte die Hausarbeit. Oder genauer: die Hausfrauenarbeit. Denn genau das bescherte Margaretes Erfindung - im Zuge des erstarkenden Feminismus jener Zeit - auch viel Kritik. Die Effizienz dieser Küche binde die Frau nur noch enger an den Herd, lautete der Vorwurf. Margarete wurde das gleichwohl nicht gerecht. Ihre Absicht war es, die Frauen mit dieser Küche zu entlasten.

Eine Frau schaut auf  eine Küchenzeile mit Arbeitsplatte, Hochschränken mit Glastüren und verschiedenen Einbauschränken mit Schubladen und kleinen Schütten.
Typisch sind die kleinen Aluminiumschubladen, in denen die wichtigsten Zutaten zu finden waren.Bild: Martin Schutt/picture alliance/dpa

Widerstand gegen die Nazis

Trotz aller Kritik wurde die "Frankfurter Küche" zu einem Erfolg. Aus aller Welt kamen Aufträge, allein 260.000 Stück wollte der französische Arbeitsminister verbauen lassen. Trotz der internationalen Anerkennung fühlte sich Margarete missverstanden, denn ihr größtes Interesse war die Beseitigung von Missständen. Das wurde ihr während der Nazizeit sogar fast zum Verhängnis. Nach dem "Anschluss" Österreichs an Nazideutschland kämpfte sie als Kommunistin im Untergrund gegen die Nazis. Sie wurde verhaftet und entkam nur knapp ihrer Hinrichtung.

Nach dem Zweiten Weltkrieg engagierte sich Margarete Schütte-Lihotzky in der Friedens- und Frauenbewegung. Sie hielt Vorträge, baute Wohnungen und Kindergärten in Deutschland, Russland, Kuba und der DDR - und sie gab jungen Architektinnen Mut und Selbstbewusstsein.

Margarete Schütte-Lihotzky , Porträt von 1997.
Margarete Schütte-Lihotzky mit 100 JahrenBild: Herbert Pfarrhofer/APA/picturedesk.com/picture alliance

Die Mutter aller Einbauküchen

Margarete Schütte-Lihotzkys berühmtestes Vermächtnis jedoch bleibt bis heute die "Frankfurter Küche". Die Idee des multifunktionalen Küchenraums ist noch immer gleich - bis hin zur Vernetzung intelligenter Kühlschränke und Herde, die per App gesteuert werden können. Dem Design sind dabei keine Grenzen gesetzt - sei es die minimalistische Loftküche im Industrie-Stil oder die gemütliche Landhausküche, die stylische Zeile im separaten Küchenraum oder die offene Wohnküche mit Küchenblock. Das Prinzip, das hinter allen modernen Küchen steht, geht auf Margaretes Idee zurück: mit so wenig Aufwand wie möglich das Beste aus einer Küche herauszuholen . Mit der "Frankfurter Küche" schuf sie die Mutter aller Einbauküchen.

Moderne Hochglanz-Einbauküche mit Küchenblock
Offen, mit zentraler Kochstelle und modern: Küchenkonzept im 21. JahrhundertBild: Benjamin Haas/picture alliance / Benjamin Haas/Shotshop
Wuensch Silke Kommentarbild App
Silke Wünsch Redakteurin, Autorin und Reporterin bei Culture Online