Leider ist es kein Witz, sondern erschreckende Wahrheit. Obwohl die Mängelliste bei der Erfassung, Berechnung und Interpretation des Bruttoinlandprodukts (BIP) lang und Legende ist, bleibt das BIP unverändert der einzige ernsthafte Maßstab zur Messung gesamtwirtschaftlicher Aktivitäten. Als wäre bei der Ermittlung alles wunderbar in Ordnung, veröffentlicht alles, was in Wissenschaft und Wirtschaft Rang und Namen hat in regelmäßigen Abständen Quartals- oder Jahresprognosen, wie sich das BIP kurz- und mittelfristig entwickeln werde. Und ebenso greifen alle, die in Medien und Öffentlichkeit den Ton angeben, die Daten der Weisen und Sachverständigen mit Ernsthaftigkeit auf.
Die Fokussierung auf das BIP und seine Veränderungen ist ein größerer Fehler denn je. Dabei geht es nicht um die alte "linke" Kritik, dass das BIP nur den Wohlstand insgesamt wiedergibt, jedoch nichts zu dessen Verteilung sagt, weswegen es kein Indikator für die Wohlfahrt einer Gesellschaft sein kann. Die neue Kritik ist weit fundamentaler. Sie entzündet sich daran, dass die BIP-Messung den Bezug zur Wirklichkeit verloren hat. Das BIP war schon nur noch begrenzt in der Lage, den Strukturwandel von der "dinglichen" Industrie - zur "unsichtbaren" Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft abzubilden. Im Zeitalter der Digitalisierung taugt das BIP erst recht nicht mehr als Thermometer für das Wirtschaftsklima.
Neue Technologien verschieben einen immer größeren Anteil der Wertschöpfung in virtuelle Bereiche jenseits der physischen Dinglichkeit von Gütern. Für viele mit der von Raum und Material losgelösten Neuerungen der Digitalisierung fehlen jedoch schlicht (noch) die gesamtwirtschaftlichen statistischen Maßzahlen. Informationsgüter mit Netzwerkcharakter werden bestenfalls teilweise erfasst. Wenn moderne Apps oder Plattformen, wie Uber, Car to Go, oder Airbnb, eine Sharing Economy und damit eine weitaus effizientere Ausnutzung vorhandener Güter, Autos oder Wohnungen ermöglichen, bildet das BIP, wenn überhaupt, so nur mit rudimentären Näherungen die Auswirkungen ab.
Wertschöpfung im Internet wird nicht erfasst
Eine beachtliche Fülle von Konsumgütern werden im Internet nahezu kostenlos zur Verfügung gestellt und erscheinen somit nicht im BIP. Sie ersetzen aber den Kauf alternativer Marktprodukte, die im BIP erfasst waren. Wenn Wikipedia den Zugriff zu einem Online-Lexikon und Youtube das Abspielen von Videos und Filmen ermöglicht, oder wenn Nerds ihre selbstentwickelten Spiele, Software, Musikvideos oder Fotos für die Allgemeinheit aufs Netz legen, dann erhalten die Nutzer etwas, ohne dafür nennenswert bezahlen zu müssen. Aber obwohl Zufriedenheit oder Wohlbefinden der Menschen steigen, fällt das BIP, weil weniger Lexika oder DVDs gekauft werden. Gleiches gilt, wenn kostenpflichtige Printmedien durch frei zugängliche elektronische Nachrichtenportale ersetzt werden. Dann erhalten Menschen billiger, schneller und einfacher Zugang zu Informationen. Das BIP jedoch sinkt, weil traditionelle Medien wie Zeitungen und Zeitschriften, Umsatzeinbußen erleiden, was zu Entlassungen und geringerer Wertschöpfung führt.
Die Wertschöpfung im Internet, der virtuelle Handel mit digitalen Daten sowie die Effekte einer Sharing Economy, in der gerade "teure" langlebige Güter - wie Wohnungen, Autos oder Elektrogeräte - gemeinsam genutzt und nicht einzeln erworben werden, entziehen sich in beachtlichen Teilen der sächlichen Erfassung, räumlichen Zuordnung und zeitlichen Abgrenzung. Deshalb sind das BIP und seine Messverfahren von geringerer Aussagekraft denn je. Das zu erkennen, ist nicht nur eine minimale Anforderung an die Wissenschaft, die nach neuen und besseren Methoden zu suchen hat. Es muss auch Öffentlichkeit und Medien vermittelt werden, wie unsinnig es geworden ist, sich beim BIP um marginale Schwankungen hinter dem Komma Gedanken zu machen oder gar Sorgen oder Euphorie zu verbreiten, wenn grundsätzliche Probleme das ganze Konzept in Frage stellen.
Bei den BIP-Prognosen ist deutlicher denn je und noch einmal mehr als früher Vorsicht vor falschem Zahlenfetischismus am Platz. Die scheinbar so präzise berechneten Voraussagen entbehren einer verlässlichen Verankerung in der Realität des Digitalisierungszeitalters. Deshalb besitzen sie eigentlich gar nicht die Qualität, um Politik und Wirtschaft als richtungsweisender Kompass zu dienen.
Thomas Straubhaar ist Professor für Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität Hamburg. Er war Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI).
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