Zwischen Leipzig und Gaza
26. Oktober 2009Samstagnachmittag in Berlin, Fawaz Abu Sitta macht die Tür auf und begrüßt seine Gäste. Er hat schon Sekt kalt gestellt, um mit ihnen das Wiedersehen zu feiern. Das letzte Mal hatte man sich in Gaza gesehen, kurz nach der israelischen Offensive im Januar 2009. Bei der Bombardierung des palästinensischen Außenministeriums war auch das nebenan liegende Haus der Familie Abu Sitta zerstört worden, Fawaz wurde dabei leicht verletzt.
An diesem fröhlichen Nachmittag in Berlin jedoch liegen die Schrecken des Krieges weit zurück. Man erzählt sich Witze und spielt mit den Kindern. Es gibt Kaffee und Kuchen und es wird viel gelacht. Fawaz und Anke haben viel zu erzählen von ihrem neuen Leben in der deutschen Hauptstadt. Nach 28 Jahren im Gazastreifen sind sie jetzt - wenigstens vorübergehend - wieder in Deutschland zuhause.
Ankunft: Baracke Schönefeld
Als Fawaz im Jahr 1971 zum ersten Mal nach Berlin kam, war er auf der Durchreise nach Leipzig: Er hatte einen von fünf Studienplätzen ergattert, die die DDR damals für palästinensische Abiturienten zur Verfügung gestellt hatte. "Ich war zu der damaligen Zeit in Alexandria und habe dort mein Abitur gemacht. Als ich von der Möglichkeit erfuhr, in Leipzig zu studieren, habe ich mich beworben", erzählt er.
Fawaz, eines von neun Kindern einer angesehenen und weit verzweigten Beduinenfamilie aus dem Gazastreifen, bekam also einen der begehrten Studienplätze und machte sich auf den Weg in die DDR. Er landete am Flughafen Schönefeld in Ostberlin, damals gab es dort noch keine Ankunftshalle, nur eine Baracke, erinnert er sich. Von Ostberlin ging es nach Leipzig und dort, in der Lumumbastraße, traf der junge Palästinenser auf Studenten aus der ganzen Welt, die hier zunächst Deutsch lernten und sich dann nach einem Jahr an der Universität einschrieben.
Schwieriger Anfang
Fawaz entschied sich zuerst für Medizin, doch bald wurde ihm klar, dass ihm das nicht wirklich lag. Und so sattelte er auf Jura um und spezialisierte sich auf Wirtschaftsrecht. Für den jungen Mann aus dem Gazastreifen war der Anfang nicht leicht. "Im ersten Studienjahr wusste ich noch nicht mal, was Vorlesungen sind. Als ich sah, wie die deutschen Kommilitonen sich Notizen machen, konnte ich nicht verstehen, wie man gleichzeitig zuhören und schreiben kann."
Manchmal schlief der Student aus Gaza in der Bibliothek ein. Da war es so schön warm und gemütlich im Winter, dass man ganz schläfrig wurde, erinnert er sich. Nach seinem Abschluss entschied er sich, noch ein Promotionsstudium anzuhängen. So konnte er noch fünf Jahre länger bleiben. "Das war eine sehr schöne Zeit. Ich wollte, dass sie nicht so schnell zu Ende geht und darum habe ich meinen Abschluss so lange wie möglich herausgezögert."
In dieser Zeit lernte Fawaz auch Anke kennen, eine Studentin, die eine Etage über ihm wohnte. Um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, ging er immer wieder hinauf, um sich irgendwelche Gegenstände auszuleihen, mal eine Zwiebel, mal eine Prise Salz oder einen Teebeutel und sogar Nadel und Faden. "Ich war sehr erfinderisch", erzählt Fawaz schmunzelnd. Und die deutsche Studentin ließ sich von so viel Hartnäckigkeit beeindrucken: Die beiden wurden ein Paar und im Jahr 1980 heirateten sie in Ankes Heimatdorf in Mecklenburg.
Das Fest ist ihnen noch heute in guter Erinnerung. Die Kinder des Dorfes standen Spalier, als das junge Paar im geschmückten Auto des Nachbarn vom Standesamt zurückkam. Zum Polterabend war das ganze Dorf gekommen. Fawaz´ Schwiegermutter hatte sich auf den großen Tag gut vorbereitet und schon Wochen vorher alkoholische Getränke für das Fest gehortet. Doch sie rechnete nicht mit der Freigebigkeit ihres Schwiegersohnes, des Beduinen aus Gaza, der eine Flasche nach der anderen aus dem Versteck holte und ausschenkte. "Ich wusste nicht, wie viel man ausgeben soll, aber es hat Spaß gemacht und die Leute waren selig", erinnert sich Fawaz. Als seine Schwiegermutter am nächsten Tag, nach der Trauung, eine Flasche zum Anstoßen holen wollte, stellte sie fest, dass alles weg war. "Wir hörten nur ihre entsetzten Schreie", erzählt Fawaz lachend.
Rückkehr nach Gaza
Im Jahr 1982 verließ Fawaz Abu Sitta die DDR und kehrte in seine Heimat zurück. Anke und die kleine Tochter Nesrin folgten ein halbes Jahr später. Die beiden Söhne des Paars, Rami und Sliman, wurden schon in der neuen, alten Heimat am Mittelmeer geboren.
In Gaza, vor dem Fernseher, erlebten die Abu Sittas auch den Fall der Mauer im fernen Deutschland. Die Wiedervereinigung hätten sie nie für möglich gehalten. "Wir hatten einfach akzeptiert, dass es zwei unterschiedliche deutsche Staaten gibt", so Fawaz. Nur sein Vater glaubte an die Wiedervereinigung und wettete sogar mit seiner Schwiegertochter, dass er es noch erleben werde.
Durch den Fall der Mauer und die deutsche Wiedervereinigung wurde Anke, die als DDR-Bürgerin im Nahen Osten angekommen war, in der deutschen Botschaft in Tel Aviv eine Bundesbürgerin. Auch Fawaz, inzwischen Professor an der Al-Azhar-Universität von Gazastadt, wurde deutscher Staatsbürger. Für ihn ist es ein Privileg und eine Ehre, Deutscher zu sein. "Ich sehe zwar aus wie ein Ausländer, aber ich fühle mich zu einem großen Teil der deutschen Gesellschaft zugehörig", sagt er stolz.
Am Abend gehen Fawaz und Anke mit ihren Gästen in ein Straßenlokal an der Ecke und anschließend schaut Fawaz noch auf ein Gläschen Bier im "Fly In" vorbei, einer typisch deutschen Kneipe mit Fassbier und Spielkonsolen: Hier darf geraucht werden und hier lässt er manchmal den Abend ausklingen. Er ist glücklich hier in Berlin, zufrieden mit seinem Leben, das so anders verlaufen wäre, wenn er nicht vor 38 Jahren einen Studienplatz in Leipzig bekommen hätte.
Autorin: Bettina Marx
Redaktion: Ina Rottscheidt