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Gisèle Pelicot: Eine Frau besiegt ihre Vergewaltiger

19. Dezember 2024

Einblick in Abgründe toxischer Männlichkeit und Gewalt: Die Vergewaltiger von Gisèle Pelicot sind verurteilt worden. Eine Reportage aus dem Gericht über Männer, die nicht schuldig sein wollen, und Frauen, die kämpfen.

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 Gisele Pelicot, in blau-weiß-gestreifter Bluse, spricht in Mikrofone
Eine Frau schreibt Geschichte: Nach der Verurteilung ihres Ex-Mannes wegen "schwerer Vergewaltigung" stellt sich Gisèle Pelicot den Fragen der PresseBild: Manon Cruz/REUTERS

Der Mond steht hoch über den Stadtmauern von Avignon am Mittwochabend vor der Urteilsverkündung. Gerade hoch genug, um das Banner anzuleuchten, das eine kleine Gruppe feministischer Aktivistinnen in einer Nacht- und Nebel Aktion aufgehängt hat. Es trägt die Aufschrift "Merci Gisèle."

Am nächsten Morgen ist es das Erste, was Juristen, Journalisten, Familienangehörige und angeklagte Männer im Vergewaltigungsprozess um Gisèle Pelicot sehen. Die Sonne ist um 7 Uhr noch nicht aufgegangen, trotzdem hat sich bereits eine lange Schlange vor dem Gerichtsgebäude gebildet. 

Der Fall erschüttert Frankreich und die Welt monatelang: Gisèle Pelicot wurde von ihrem damaligen Ehemann Dominique Pelicot jahrelang betäubt, vergewaltigt und Männern zur Vergewaltigung angeboten. Über 200 Fälle organisierter Vergewaltigungen wurden ihm nachgewiesen.

Vergewaltigungsprozess: Gisèle Pelicot als Heldin gefeiert

Von der Urteilsverkündung ins Gefängnis

Die Angeklagten erkennt man sofort. Nicht nur, weil sie versuchen, mit Masken und Kapuzen ihre Identitäten zu verstecken, sondern auch, weil Aktivistinnen bei ihrer Ankunft "Vergewaltiger, wir sehen euch!" skandieren. Eine hält ein Schild mit der Aufschrift "Weihnachten im Gefängnis" in die Höhe.

Nach nur 60 Minuten Urteilsverkündung ist klar: Dominique Pelicot und die dutzenden anderen Vergewaltiger werden wohl in der Tat Weihnachten im Gefängnis verbringen. Sie hatten vielleicht schon eine Vorahnung, denn sonst wären nicht so viele von ihnen mit großen Reisetaschen und Rucksäcken erschienen. 

Eine Träne im Glashaus

Der Gerichtssaal wirkt wie ein Klassenzimmer, schmucklos. Das riesige magentafarbene Gemälde hinter dem Gerichtspräsidenten Roger Arata gibt dem Raum dennoch etwas Einschüchterndes. Im Vergleich zu dem Gemälde wirkt der Fernseher rechts daneben winzig, die Holzbänke profan. 

Gleich unter dem Gemälde sitzen fünf Richter in schwarz, der Gerichtspräsident trägt rot. Einige der Vergewaltiger sitzen auf der hölzernen Anklagebank, diejenigen, die wie Dominique Pelicot bereits in Untersuchungshaft sind, in einem Glaskasten dahinter.

Unterstützerinnen halten vor dem Gerichtssaal in Avignon ein Plakat mit der Aufschrift "Merci pour votre courage" hoch
"Danke für Deinen Mut": Viele Frauen feiern Gisèle Pelicot für ihren Kampf, der für sie enorme Bedeutung hatBild: Clement Mahoudeau/AFP/Getty Images

Dominique trägt eine graue Jacke, sein Blick ist noch ausdruckslos, doch später trocknet auch er mit gesenktem Blick eine Träne, die über seine Wangen rollt.

Der Gerichtspräsident Roger Arata beginnt um 9.45 Uhr, die 51 Urteile zu verlesen. Als Erster ist Dominique Pelicot dran.

Schuldig in allen Anklagepunkten

"Das Strafgericht hat mehrheitlich entschieden, dass Sie der schweren Vergewaltigung an Madame Gisèle Pelicot schuldig sind", sagt Arata.

Dominique Pelicot wird auch in allen anderen Anklagepunkten schuldig gesprochen: Den vorsätzlichen Betäubungen, dem Aufzeichnen seiner Verbrechen, den pornografischen Fotos, die er von seiner Tochter Caroline ohne ihr Einverständnis gemacht hat.  

Den Satz "sie sind der schweren Vergewaltigung schuldig" wird Gisèle Pelicot in einer Stunde dutzende Male hören. In der ersten halben Stunde hat Roger Arata alle Männer schuldig gesprochen, in der nächsten halben Stunde die Gefängnisstrafen ausgesprochen.

Der Reihe nach erheben sich die Männer, um ihre Urteile entgegenzunehmen. Manche verziehen keine Miene, andere schauen in die Luft oder auf den Boden.

Keiner der 51 Männer, von denen etwa dreißig auf ihre Unschuld plädiert hatten, und einer noch auf freiem Fuß ist, wird freigesprochen. Die Verurteilten bekommen Gefängnisstrafen zwischen drei und 15 Jahren, davon zwei auf Bewährung. Sie können noch in Berufung gehen.

Für einige der Aktivisten, die draußen vor dem Gerichtssaal warten, hätten alle Täter 20 Jahre Haft bekommen sollen: "Das Urteil ist nicht ausreichend", erklärt Jean Baptiste Reddé. Nicht nur Dominique Pelicot, sondern "alle anderen Männer, die Madame Gisèle Pelicot vergewaltigt haben, hätten ebenfalls 20 Jahre bekommen müssen", fordert er.

Wie Gisèle Pélicot andere Vergewaltigungsopfer inspiriert

"Alles nur ein Spiel"?

Gisèle Pelicot hört den Urteilen aufmerksam zu, nickt hin und wieder, manchmal flüstert sie ihrem Anwalt etwas zu. Sie schaut ihren Vergewaltigern in die Augen. Es sind, auf den ersten Blick, unauffällige, normale Männer. 

Sie sind zwischen 26 und 72 Jahre alt, Gärtner, Journalisten, Klempner, Informatiker. Es sind Familienväter und Ehemänner, mit Glatzen und Raucherstimmen, Bärten und Brillen, sie tragen Cardigans und Kapuzenpullis. Ihre Mütter verlassen teilweise weinend den Gerichtssaal, als sie erfahren, dass sie ihre Söhne an Weihnachten im Gefängnis besuchen werden.

Einer von ihnen hat die Seitenhaare in einem Undercut abrasiert, er trägt Jeans und eine braune Strickjacke. Er heißt Simone Mekenese und erhebt sich für sein Urteil.

Der 43-jährige ehemalige Soldat war ein Nachbar der Familie Pelicot. Dominique lud ihn zu sich ein, "um ihm die Ware zu zeigen", bevor sie im November 2018 gemeinsam Gisèle Pelicot vergewaltigten. 

Wie viele der anderen Vergewaltiger pochte auch Mekenese auf seine Unschuld. Er habe geglaubt, alles sei Teil eines Spiels, in dem Gisèle Pelicot - bewusstlos auf dem Bauch liegend - so tat, als schliefe sie. Stutzig sei er erst geworden, als Dominique ihn bat, den Raum zu verlassen, da seine Frau bald aufwache. 

Mekenese habe Gisèle nie nach ihrem Einverständnis gefragt, weil "ein Mann mit seiner Frau machen kann, was er will" - eine Aussage, die er später im Kreuzverhör revidierte. Er habe sich falsch ausgedrückt: Ein Mann habe ebenso nicht das Recht, seine Frau zu schlagen, so Simone. 

Nach diesem letzten Prozesstag äußert sich Gisèle Pelicot noch einmal: "Als ich am 2. September die Türen zu diesem Prozess für die Öffentlichkeit öffnete, wollte ich, dass die Gesellschaft an dieser Debatte teilhaben kann. Ich habe diese Entscheidung nie bereut." 

DW Volontärin Djamilia Prange de Oliviera
Djamilia Prange de Oliveira Reporterin mit besonderem Fokus auf Frauenrechten, Kultur, Gesellschaftspolitik und Brasilien.