1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Die Demokratie steckt in der Krise

Alexander Görlach - Carnegie Council for Ethics in International Affairs
Alexander Görlach
15. April 2022

Wirtschaftliche Nachteile und der Frust gegenüber den politischen Eliten können zur Ablehnung des demokratischen Gesellschaftsmodells führen. Doch das ist zu kurz gegriffen, meint Alexander Görlach.

https://p.dw.com/p/49vXo
Zitattafel | Prof. Dr. Alexander Görlach

Wer meint, nur in den USA gäbe es Verschwörungstheorien, die den Zusammenhalt der Gesellschaft und die Demokratie insgesamt bedrohen, liegt falsch.

Fast Dreiviertel der Anhänger*innen der republikanischen Partei in den Vereinigten Staaten glauben, dass Joe Biden nicht der rechtmäßige Präsident des Landes sei. Von der Gesamtbevölkerung stehen 15 Prozent hinter der Behauptung des militant rechten Verschwörungskonglomerats "QAnon", das US-Regierung, Wirtschaft und Medien "von einer Gruppe aus Satan anbetenden Phädophilen kontrolliert wird, die weltweit  Kinder sexuell versklaven." 

Auftritt Deutschland: Einer gerade veröffentlichen repräsentativen Umfrage des Allensbach-Instituts zufolge glaubt ein Drittel der Bundesbürger*innen in einer "Scheindemokratie" zu leben, "in der die Bürger nichts zu sagen haben."

Leben wir in einer Schein-Demokratie?

Eine Flagge der QAnon-Bewegung mit dem Spruch "Make Germany great again"
Viele Menschen fühlen sich vom demokratischen Prozess ausgeschlossen und wirtschaftlich benachteiligtBild: SULUPRESS.DE/picture alliance/dpa

Diese Aussage teilen im Westen der Republik 28 Prozent, im Osten 45 Prozent. Bereits in der Corona-Pandemie war deutlich geworden, dass in den neuen Bundesländern weit weniger Menschen Anschluss an die politische Realität in Deutschland haben als anderenorts. Die Impfverweigerung und die Ablehnung Schutzmasken zu tragen, hat in Thüringen im vergangenen Jahr zu einer Übersterblichkeit von 47 Prozent, in Sachsen von 49 Prozent geführt.

Bei den europäischen Nachbarn sieht es nicht besser aus: In Frankreich glaubten im Januar 2022 rund 57 Prozent der Bevölkerung, dass die Demokratie in ihrem Land nicht richtig funktioniert, im Vereinigten Königreich geben 34 Prozent der Menschen an, in politischen Angelegenheiten "absolut nichts zu sagen" zu haben.

Diese Umfragen lassen sich nicht eins zu eins übereinanderlegen, aber sie zeigen doch einen Trend auf: eine Unzufriedenheit mit der Demokratie. Wer den Horizont über die genannten Länder weitet  kann sehen, dass immer dieselben Kritikpunkte genannt werden: mangelnde ökonomische Teilhabe, vorenthaltende individuelle Rechte und Zorn auf Eliten, die die Bodenhaftung verloren hätten.

Der Vertrauensverlust in die Demokratie

Bereits 2017 machte der britische Autor David Goodhart in seinem Buch "The Road to Somewhere: Die populistische Revolte und die Zukunft der Politik" darauf aufmerksam, dass traditionelle, ländliche und aufgeklärte, städtische Milieus zunehmend miteinander in Konflikt geraten. In der Tat war, nach dem US-amerikanischen Politologen Francis Fukuyama, nichts so ausschlaggebend für die Abstimmung über den Brexit und die Wahl von Donald Trump wie die Bevölkerungsdichte. Dort, wo wenig(er) Menschen auf weitem Raum leben, stimmten sie eher für den Brexit und für Donald Trump als in dichtbesiedelten Regionen und Städten.

Es war auch Fukuyama, der in seinem Buch "Identität: Wie der Verlust der Würde die Demokratie gefährdet" aufzeigte, dass der Verlust an ökonomischer Teilhabe, zuerst zu Zorn und dann zur Ablehnung des demokratischen Gesellschaftsmodells führe. Dieser Lesart zufolge sei die neoliberale Ideologie, die sich viele demokratische Regierungen in den vergangenen beiden Jahrzehnten zu eigen machten, für den Vertrauensverlust in die Demokratie verantwortlich.

Eine Infografik zur Erosion von demokratischen Werten

Die Ursachen liegen tiefer

Das ist sicher nicht falsch, dieser Befund greift jedoch zu kurz: Denn mit der ökonomischen Unzufriedenheit stieg nicht nur der Zorn auf das demokratische System und der Wille, seine falschen wirtschaftsideologischen Prämissen zu überwinden, sondern auch die radikale Ablehnung der neuzeitlichen Wissenschaft, deren rationale Grundlage und Ergebnisse das Rückgrat der modernen Gesellschaft bilden. Eine Ableitung von "mir geht es ökonomisch schlecht" zu "meine Regierung besteht aus einem Ring von Verbrechern, die weltweit Kinder versklavt", ist, gelinde gesagt, nicht zwingend. 

Um der Krise der Demokratie Herr zu werden, genügt es daher nicht mehr, die ökonomischen Ungleichheiten zu beseitigen und Teilhabe neu zu justieren. Es gilt darüber hinaus herauszufinden, wieso tribale, nationalistische, religiös-verbrämte Überlegenheits- und Verschwörungstheorien an den Platz rationaler, säkularer Wissenschaftlichkeit treten konnten.

Denn der Schluss, der aus den Ergebnissen der hier herangezogenen Umfragen gezogen werden kann, ist nicht nur der, dass die Demokratie als Staats- und Regierungsform zunehmend abgelehnt wird, sondern mit ihr das gesamte neuzeitliche Welt- und Menschenbild, hinter das es kein Zurück mehr geben kann. Demokratieverweigerung als Chiffre für Welthass, das kann nicht lange gut gehen.

Alexander Görlach ist Senior Fellow am Carnegie Council for Ethics in International Affairs und Research Associate am Internet Institut der Universität Oxford. Nach Aufenthalten in Taiwan und Hongkong wurde diese Weltregion, besonders der Aufstieg Chinas und was er für die freie Welt bedeutet, zu seinem Kernthema. Er hatte verschiedene Positionen an der Harvard Universität und der Universität von Cambridge inne.

Vermögen in Deutschland ungleich verteilt