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Elfmetertrauma Englands - ein Klischee?

29. April 2020

Wissenschaftler der Sporthochschule Köln behaupten, dass englische Fußballer vom Elfmeterpunkt nicht schlechter oder besser schießen als ihre Kollegen aus anderen Nationen. Der gemeine Fußballfan bleibt skeptisch.

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Fussball WM 1990 - Halbfinale | Deutschland vs England
Bild: Getty Images/Bongarts

"Es gibt nur zwei Arten zu leben", hat Albert Einstein einmal festgestellt. "Entweder so als wäre nichts ein Wunder oder so als wäre alles ein Wunder." Den gemeinen Fußballfan kann der sonst so geniale Wissenschaftler damit doch nicht gemeint haben, denn besagter Mensch mit Passion fürs runde Leder kann in der Regel differenzieren: Bei der WM in Brasilien gegen Brasilien 7:1 gewonnen, ein Wunder! Mario Götze wird eingewechselt und schießt Deutschland zum WM-Titel, ein Wunder! Aber: England verliert bei Großereignissen im Elfmeterschießen, definitiv kein Wunder! 

Löwen werden zu Kätzchen

Denn die Jungs von der Insel versemmeln Strafstöße doch regelmäßig, wenn es drauf ankommt. Beispiele gefällig? WM 1990, Halbfinale Deutschland gegen England: Stuart Pierce scheitert an Bodo Illgner, Chris Waddle drischt den Ball drüber. Oder die englische Heim-EM 1996, als sich im Halbfinale das Drama wiederholt: Gareth Southgate schießt, Andy Köpke hält. Auch im Shootout bei anderen großen Turnieren gegen andere Gegner - Spanien, Argentinien, Portugal - das gleiche Bild: Am Ende werden die "Three Lions", die Löwen, wie die englischen Kicker sonst gerufen werden, zu winselnden Kätzchen. Man könnte fast ein Sprichwort daraus machen: "Shootout kommt, da heißt es schlicht: England kann Elfmeter nicht."

Fußball-WM 90 Bodo Illgner hält Pearce-Elfmeter
Stuart Pierce scheitert im WM-Halbfinale 1990 am deutschen Torhüter Bodo IllgnerBild: picture-alliance/dpa

Daten sprechen dagegen

Doch jetzt kommen tatsächlich Wissenschaftler der Deutschen Sporthochschule in Köln daher und sagen: Das stimmt so nicht. Sie haben die Erfolgsquoten englischer Fußballer mit denen anderer Nationen verglichen, sowohl bei Welt- und Europameisterschaften als auch in den nationalen Ligen, um zu überprüfen: Sind Kicker von der Insel wirklich die schlechteren Elfmeterschützen? "Die einfache Antwort auf diese Forschungsfrage lautet, dass die empirischen Daten dieses Klischee nicht stützen", heißt es am Ende lapidar. 

Insgesamt 72 Prozent aller Elfer im Elfmeterschießen würden verwandelt, während des Spiels sogar 79 Prozent. Und dabei sei es ziemlich belanglos, welcher Nation der Schütze angehöre. Im normalen Spielverlauf treffe der Engländer an sich sogar etwas häufiger, im Elfmeterschießen dagegen etwas weniger. Aber statistisch relevant sei das nicht. Mit anderen Worten: Packt euer Vorurteil ins Lexikon der populären Irrtümer!

1996 UEFA European Championships | England vs Deutschland
Bei der Heim-EM 1996 dasselbe Spiel: diesmal kann Andreas Köpke gegen Gareth Southgate abwehrenBild: Getty Images/R. Kinnaird

Kein Wunder

Manno, denkt der gemeine Fußballfan. Doch dann liest er weiter und beruhigt sich wieder. Denn am Ende lassen sich die Wissenschaftler doch noch eine Hintertür offen: Man wolle "nicht ausschließen, dass es bedeutsame Unterschiede zwischen den Nationen geben könnte", wenn der Ball auf den ominösen Punkt gelegt wird. So könnte beispielsweise die Furcht der Profis vor dem Urteil der gnadenlosen englischen Boulevardpresse dazu führen, dass ihnen das Herz in die Hose und der Ball über den Spann rutsche. Oder aber die englischen Spieler und Trainer seien so sehr davon überzeugt, Elfmeterschießen sei per se nur eine Lotterie, dass sie sich gar nicht erst vernünftig darauf vorbereiteten. 

Na also, sagt sich der gemeine Fußballfan. Da lag ich doch nicht so falsch. Elfmeterschießen ist halt mehr als nur gegen den Ball treten, die Psyche spielt eine mindestens genauso große Rolle. Und wer sagt denn, dass es sich hier nicht um eine "self-fulfilling prophecy" handelt, wie es die Soziologen nennen, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: Alle Welt glaubt, dass englische Fußballer nicht Elfmeter schießen können. Am Ende glauben es die Kicker selbst - und verschießen. Ganz und gar kein Wunder, Herr Einstein!

DW Kommentarbild Stefan Nestler
Stefan Nestler Redakteur und Reporter