Fünf Jahre nach Fukushima ist Japan wieder Reiseland
10. März 2016In Baumwoll-Kimonos bummeln erholungsuchende Japaner durch die pittoresken Gassen des Kurortes Kinosaki, vorbei an Restaurants und Feinkostgeschäften mit Sake-Keksen und Grüntee-Schokolade. Drei blond gefärbte junge Männer steuern eine Videospielkneipe an, ältere Paare gehen spazieren. In ihren Yakutas - so heißen die Baumwoll-Kimonos - gehen sie shoppen, in eine Karaokebar oder in eines der Bäder im Freien, in Kurhäusern oder in Hotels.
Europäer entdecken Badekultur
Der "Lonely Planet"-Reiseführer hat den 4000-Einwohner-Ort in der südwestlichen Provinz Hyogo zum schönsten Thermalbad Japans ernannt. Daher mischen sich neuerdings auch Europäer unter die japanischen Kurgäste. Ihre Zahl soll in den nächsten Jahren wachsen, geht es nach dem Willen der japanischen Tourismusbehörden. Nach der Atomkatastrophe von Fukushima am 11. März 2011 hatte der Tourismus einen herben Einbruch erlitten, doch derzeit steigt die Beliebtheit des Landes bei ausländischen Reisenden wieder stark an.
2010 kamen 8,6 Millionen Ausländer, 2011 weniger als die Hälfte davon. Im Jahr 2014 waren es dann aber bereits mehr als 13 Millionen Touristen und 2015 sogar mehr als 19 Millionen. Damit verzeichnete Japan im vergangenen Jahr erstmals mehr ausländische Besucher als japanische Touristen im Ausland.
Nach dem Tsunami kam die Flaute
Die sogenannten "Onsen", die Reisende in Thermalbäder wie Kinosaki locken, sind heiße Quellen, erhitzt durch vulkanische Aktivitäten. Sie gehören zur japanischen Badekultur. "Wir Japaner verbringen gern ein Wochenende in einem Onsen", erzählt Ayumi Honda (42). "Wir kommen mit der Familie oder mit Freunden und schlafen in einem Ryokan." Diese Herbergen sind traditionell eingerichtet, auf dem Tatamiboden in den Gästezimmern wird zu mehreren auf Futons geschlafen.
Ayumi Honda ist in Osaka geboren, hat in Frankreich studiert und acht Jahre lang in einer Reiseagentur gearbeitet, die für japanische Touristen Reisen durch Europa organisierte. Als sie wieder mehr Zeit in der Heimat verbringen wollte, machte sie die Prüfung zur Reiseführerin in Japan. 2011 hatte sie ihr Diplom. "Da kam der Tsunami, und alle Reisen wurden annulliert", erinnert sich die Japanerin. Ausgelöst durch ein Seebeben und den Tsunami kam es zur Atomkatastrophe von Fukushima.
Japan wirbt um Touristen
Die Tourismuskrise traf auch Kyoto, die "kaiserliche Residenz" rund 500 Kilometer südwestlich von Fukushima. Mit seinen 1600 buddhistischen Tempeln, 400 Shinto-Schreinen, mit Palästen, Gärten und Museen ist Kyoto das beliebteste Touristenziel Japans. Viele der berühmtesten Bauwerke wurden 1994 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt.
Nach der Atomkatastrophe investierten Stadt und Region einiges, um den Tourismus wieder anzukurbeln: Der Distrikt bezahlte Reiseveranstaltern für jede Gruppe mit 20 Touristen 100.000 Yen, um die 800 Euro. Die Aktion kostete insgesamt über 150.000 Euro, erinnert sich Shigemitsu Tada, die Chefin der regionalen Tourismusbehörde.
Inzwischen ist die Kurve der Besucher nicht nur in Kyoto wieder in die Höhe gegangen. Radiologisch sei Japan als Reiseland außer in den evakuierten Gebieten rund um Fukushima unbedenklich, erklärt das deutsche Auswärtige Amt in seinen Reisehinweisen. Die Gegend liegt weit weg von den typischen Touristenrouten.
Kultur, Natur und Shopping
Die meisten Reisenden kommen aus den asiatischen Nachbarländern Korea, China, Taiwan, Hongkong, Thailand. An der Spitze der westlichen Besucher stehen traditionell Australier und US-Amerikaner. Aber seitdem der japanische Pavillon auf der Expo 2015 in Mailand ausgezeichnet wurde, kommen auch mehr Italiener, über 100.000 waren es im vergangenen Jahr. Vorne unter den Europäern liegen die Franzosen mit 214.000 Besuchern. Aber auch Deutschland hat mit mehr als 162.000 Touristen ein Plus von 15 Prozent in der japanischen Urlauberstatistik zu verzeichnen.
Das Land der aufgehenden Sonne lockt mit 19 UNESCO-Welterbestätten. Drei Regionen haben sich außerdem zusammengeschlossen, um gemeinsam in Europa Werbung zu machen für Wellness auf Japanisch, einen Besuch im Hyogo-Störchepark oder im Fischerhafen von Ine am Japanischen Meer.
Hyogo, Tottori und Kyoto im südlichen Teil der Hauptinsel Honshu bieten regionale kulinarische Spezialitäten wie Krabben, Sashimi oder Kobe-Rind. Dazu gibt es Sake-Reiswein und neuerdings sogar in Japan mit deutscher Hilfe hergestellten Wein: Die Amanohashidate-Winery liegt unweit einer mit Kiefern bewachsenen Sandbank zwischen Bergen und Ozean.
Europäische Touristen, denen kulturelles Interesse unterstellt wird, sind beliebt. "Chinesische Touristen kommen in Massen zum Shopping", stellt Samantha Barrow fest. Die 24-jährige Engländerin arbeitet im Tourismusdepartement von Tokooya. "Die Europäer gelten als höflich, sauber, nett, reich und schick."
Verstrahlte Geisterstädte als Touristenziel
Auch nach Fukushima kommen erste Touristen. Der Ort Namie liegt nur acht Kilometer von dem havarierten Atomkraftwerk entfernt. Nach der durch das Seebeben ausgelösten Katastrophe wurde die gesamte Stadt evakuiert. Auch nach fünf Jahren ist die Strahlung immer noch so stark, dass bislang kein Bewohner nach Namie zurückkehren durfte.
"In der Region Fukushima lässt sich sehen, wie verheerend ein Atomunfall ist", sagt Touristenführer Shinichi Niitsuma. "Ich will, dass die Besucher diese Geisterstadt sehen, diesen Ort der Hoffnungslosigkeit." Der 70-Jährige ist einer von zehn Freiwilligen, die Touristen durch Namie und andere verlassene Städte der Region führen.
Bei der Führung stellt Niitsuma mit einem Dosimeter sicher, dass die Besucher nicht zu großer radioaktiver Belastung ausgesetzt sind. Über das Ausmaß der Verwüstung sind die Besucher entsetzt. "Das Fernsehen und die Zeitungen berichten von Fortschritten beim Wiederaufbau und dass sich das Leben wieder normalisiert. Aber in Wirklichkeit hat sich noch gar nichts getan hier", empört sich Chika Kanezawa, eine Teilnehmerin der Tour.
Touristenführer Niitsuma macht sich Vorwürfe, dass er sich vor der Katastrophe nicht in der Anti-Atomkraft-Bewegung engagiert hat. "Ich hätte das ernster nehmen sollen", sagt er. "Deshalb arbeite ich als Führer - um das wieder gut zu machen."