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Keine einfachen Wahrheiten

Sarah Judith Hofmann
13. Juli 2021

Nach einer Auseinandersetzung mit "Me Too" widmet sich die Israelin Gundar-Goshen gleich zwei großen Diskursen: Antisemitismus und "Black Lives Matter".

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Ayelet Gundar-Goshen  - israelische Schriftstellerin
Ayelet Gundar-GoshenBild: Tal Shahar

Dass eine persönliche Begegnung mit Ayelet Gundar-Goshen im Therapieraum stattfindet, ist nur folgerichtig. In all ihren Romanen führt die Schriftstellerin ihre Leser an Orte der menschlichen Psyche, an denen es schmerzt. Beim Lesen ihrer Romane legt man sich gewissermaßen auf ihre Couch und stellt sich Fragen wie diese: Wie würde ich handeln, wenn ich einen Flüchtling überfahren hätte? Ist Rache legitim? Oder auch: Wie gut kenne ich meine eigenen Kinder? Wozu sind sie fähig?

Ayelet Gundar-Goshen arbeitet als Psychotherapeutin in Tel Aviv. Und scheinbar ganz nebenbei schreibt sie Bücher. Mittlerweile hat die Ende-30-Jährige vier Romane veröffentlicht - alle mit großem Erfolg in mehreren Sprachen.

Im Zentrum ihres neuen Romans "Wo der Wolf lauert" steht die Israelin Lilach, die mit ihrem Mann und Sohn seit dessen Geburt in den USA lebt. Mittlerweile ist Adam ein Teenager, doch richtige Amerikaner sind die Schusters immer noch nicht.

So sehr Lilach sich wünscht, ihre israelische Identität abzulegen, es gelingt ihr nicht. Das wird umso offensichtlicher als sich in der Synagoge von Palo Alto, wo die Familie lebt, ein Anschlag ereignet. Ein Mädchen - ungefähr so alt wie Adam - wird getötet. Nach der antisemitischen Tat gründet ein anderer Israeli aus der Nachbarschaft eine Selbstverteidigungsgruppe, die für Adam - bis dahin ein schüchterner, unsportlicher Junge - zur totalen Identifikation wird. Plötzlich sieht er sich vor allem als Israeli und als Jude, der sich gegen mögliche Angriffe wehren will. Seine Mutter erkennt ihn kaum wieder.

Ist mein Kind glücklich? Und: Macht es andere glücklich?

"Ich glaube unsere Kinder sind für uns als Eltern das größte Mysterium. Ich glaube, wir sehen unsere Kinder durch einen Schleier der Liebe, der den Blick auf die Realität verstellt", sagt Gundar-Goshen. "Früher wollte man ein gutes Kind erziehen. Vielleicht einen guten Kommunisten, einen guten Kibbutzbewohner, oder auch einen guten Faschisten oder Nazi. Aber die großen Ideologien sind dem Individualismus gewichen. Heute wollen wir, dass unsere Kinder glücklich sind. Doch auch das birgt Risiken. Wir fragen uns zu selten: Könnte es sein, dass mein Kind anderen Schaden oder Leid zufügt? Macht mein Kind andere glücklich oder mache ich mir nur Gedanken darüber, dass es selbst sich gut fühlt?"

Genau diese Fragen stellt Lilach sich in den Wochen nachdem ein Mitschüler von Adam auf einer Party tot aufgefunden wird. Denn sie erfährt: Dieser Junge hat ihren Sohn schikaniert. Adam hat ihn dafür gehasst.

Lilach beginnt immer weiter zu ermitteln, während die Polizei zunächst untätig bleibt. Denn Jamal, der tote Junge, ist schwarz. Und es heißt schnell, er habe Drogen genommen. Während Adam zu den wohlhabenden Familien des Silicon Valley gehört, kam Jamal nur durch ein Sozialprogramm an die Schule ins Nobelviertel von Palo Alto.

In dem Roman steckt deutlich eine Auseinandersetzung mit den großen Themen Antisemitismus und Black Lives Matter. Doch Ayelet Gundar-Goshens Blick reicht tiefer als eine bloße Bestandsaufnahme und dies ganz ohne political correctness. Der schwarze Junge ist keineswegs einfach "der arme Gute". Er hat Adam erpresst und beklaut. Die Charaktere sind vielschichtig, die Realität ist kompliziert, es gibt keine einfachen Wahrheiten.

Der wunde Punkt: Antisemitismus

Dies gilt auch in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus: Als an der Schule in großen Lettern "Der Jude hat ihn ermordet" geschmiert wird, muss Lilach schlucken. Auch sie denkt darüber nach, ob ihr Sohn den anderen getötet haben könnte. 

"Was mich am derzeitigen Diskurs stört ist diese Idee, dass in einem Roman nichts antisemitisches oder rassistisches stehen darf. Die Erzählerin ist schließlich nicht gleich die Autorin”, sagt Gundar-Goshen. "Und wenn man mir sagt, darüber darfst du nicht reden, dann weiß ich als Psychologin, das ist exakt der wunde Punkt, an den ich gehen muss. Diese Vorstellung, dass man Juden nicht kritisieren darf, weil dies antisemitisch sein könnte  - natürlich kann man Juden kritisieren ohne dass dies zwangsläufig antisemitisch ist! Und dass man nichts über "Rasse" sagen darf, weil dies zu explosiv sei! Wenn wir denken, dass es explosiv ist, dann sollten wir doch gerade darüber sprechen!"

Ayelet Gundar-Goshen bricht bewusst Tabus. Das galt schon für ihre vorigen Romane. Inmitten der "Me Too"-Debatte erzählte Gundar-Goshen in "Lügnerin" von einem jungen Mädchen, dass der Polizei meldet, sie sei von einem berühmten Sänger vergewaltigt worden - dabei hat er sie lediglich verbal erniedrigt. Der Protagonist in "Löwen wecken", ein Arzt in der Negevwüste, überfahrt einen eritreischen Flüchtling - und begeht Fahrerflucht. Doch die Frau des Flüchtlings hat die Tat beobachtet und beginnt den Arzt zu erpressen.

Zwischen Kritik und Identifikation: Israel ist Zuhause

Gundar-Goshen meldet sich jenseits ihrer Romane immer wieder zu Wort. Mehrfach hat sie in der Vergangenheit die Besatzungspolitik der israelischen Regierung scharf kritisiert. Die Eskalation zwischen Israel und Gaza vor wenigen Wochen hat sie beunruhigt - auch als Mutter: "Die Vorstellung, dass ich hier Kinder erziehe, die mitten in der Nacht aufwachen, weil sie hören, wie Raketen explodieren, macht mir Sorgen und gleichzeitig dachte ich an die Mütter in Gaza und ihre Kinder. In Israel sind jetzt alle so glücklich, dass es wieder 'ganz normal' ist, dass man jetzt wieder als wäre nichts gewesen in Restaurants geht und all das. Das ist nicht normal, sondern völlig crazy. Zu glauben, das Leben in Tel Aviv sei 'normal', ist verrückt."

Wie ihre Protagonistin Lilach hat auch die Autorin in Kalifornien gelebt - wenn auch nur ein Jahr. Doch wie Lilach - die von ihren amerikanischen Freunden nur "Lila" genannt wird, weil diese ihren Namen nicht aussprechen können - stellte auch Gundar-Goshen in der Ferne umso mehr fest, wie sehr sie sich als Israelin fühlt.

"Es war beinah perfekt dort. Nicht über mögliche Gefahren, potenzielle Terroranschläge, Raketen aus Gaza nachdenken zu müssen. Es war eine ganz andere Existenz als in Tel Aviv. Und doch war ich froh, wieder zurück zu sein", sagt sie. "Ich habe feste Wurzeln im Hebräischen und in der israelischen Kultur, auch wenn ich genau diese Kultur und die Politik häufig kritisiere. Dies ist mein Zuhause."

Ayelet Gundar-Goshen: "Wo der Wolf lauert", Roman, KEIN & ABER, 25 Euro.