Keine Verurteilung wegen tödlicher Schüsse
30. März 2016Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat es abgelehnt, Großbritannien im Fall der tödlichen Polizeischüsse auf den Brasilianer Jean Charles de Menezes nach den Selbstmordanschlägen von London 2005 zu verurteilen. Die Straßburger Richter entschieden, die britischen Behörden hätten den Fall sorgfältig untersucht. Sie seien damit ihren Pflichten nachgekommen, obwohl keiner der verantwortlichen Polizisten angeklagt worden sei.
Der Tod des 27-Jährigen in einer Londoner U-Bahn am 22. Juli 2005 hatte in der Öffentlichkeit Empörung ausgelöst. Polizisten hatten den jungen Mann mit einem Extremisten verwechselt, von dem sie befürchteten, er könne einen neuen Selbstmordanschlag verüben und ihn mit sieben Kopfschüssen getötet.
52 Tote bei Anschlägen
Zwei Wochen zuvor hatten Selbstmordattentäter bei Anschlägen in einem Bus und mehreren U-Bahnen in London 52 Menschen getötet und hunderte verletzt. Am 21. Juli wurden dann mehrere nicht detonierte Bomben entdeckt, offenbar waren weitere Anschläge geplant. Als mutmaßliche Attentäter wurden unter anderem zwei Männer ausgemacht, die im gleichen Gebäude wohnten wie de Menezes.
Die Tötung des Brasilianers führte zu einer Reihe von Ermittlungen, die der Polizei eine Reihe von Fehlern nachwiesen. Die verantwortlichen Beamten wurden aber dennoch nicht angeklagt. Unter anderem war die Staatsanwaltschaft der Auffassung, den Polizisten könne kaum nachgewiesen werden, dass sie nicht wirklich gedacht hätten, sich in einer tödlichen Gefahr zu befinden und aus Notwehr zu handeln.
Klage in Straßburg
Eine Cousine von de Menezes klagte deswegen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Sie argumentierte, die britische Regierung sei ihrer Pflicht nicht nachgekommen, die Verantwortlichen für den Tod ihres Verwandten zur Rechenschaft zu ziehen. Dies stelle einen Verstoß gegen Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention dar, der den Schutz des Rechts auf Leben festschreibt.
Die Große Kammer des Straßburger Gerichtshofs sah das aber anders: Die Entscheidung, keinen der beteiligten Polizisten anzuklagen, gehe nicht auf ein "Versagen" der Ermittlungen zurück und sei auch kein Zeichen für eine "Toleranz" gegenüber Straftaten, erklärten die Richter. Vielmehr sei die Staatsanwaltschaft nach "sorgfältigen Ermittlungen" zu dem Schluss gekommen, dass es keine ausreichenden Beweise gegen die Beamten gebe.
Die "Frustration" der Familie des Brasilianers sei zwar "verständlich"; ein Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention liege aber nicht vor, betonte der Gerichtshof. Gegen das Urteil können keine Rechtsmittel eingelegt werden. Einstimmig fiel die Entscheidung aber nicht: Vier der 17 Richter veröffentlichten abweichende Meinungen.
wl/mak (afp, rtre)