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PolitikNahost

Jordanien - ein Land in Unruhe

Kersten Knipp | Emad Hassan
20. Dezember 2022

Seit über zwei Wochen demonstrieren viele Jordanier gegen die gestiegenen Lebenshaltungskosten. Ändert sich nichts, könnten sich die Proteste noch verschärfen. Doch für Reformen fehlt es der Regierung an Geld und Mut.

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Einer der getötetem Polizisten wird zu Grabe getragen.
Anteilnahme: Beerdigung eines der getöteten Polizisten Bild: AFP

Drei tote Polizeioffiziere, umgekommen bei einem Schusswechsel im Süden Jordaniens, ebenso wie der mutmaßliche Schütze. Die Gewalt eskaliert rund um die Stadt Maan, die seit einigen Tagen das Zentrum anhaltender Sozialproteste ist. Bereits in der vergangenen Woche war ein leitender Polizist im Kontext der Proteste getötet worden. Landesweit verhaftete die Polizei anschließend über 40 Personen.

Viele Jordanier seien schockiert über den Tod der Polizisten, sagt Edmund Ratka, Leiter des Büros der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in Amman. Besonders erschrocken seien sie über die Brutalität der Auseinandersetzung: Die Polizisten wurden im Rahmen einer Hausdurchsuchung in den Schusswechsel verwickelt. Ihr Auftrag: Eine Person zu verhaften, die mutmaßlich für die Ermordung des ersten Polizisten verantwortlich gewesen sein soll. Der regierungsnahen Tageszeitung Jordan Times zufolge handelt es sich bei den Verdächtigen um Anhänger der so genannten Takfir-Ideologie, einer extremistischen politischen Auslegung des Islam, der auch die Terrororganisationen Al-Kaida und die Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS) folgen.

In welchem Zusammenhang könnten die Morde stehen?

Offen ist freilich, ob es überhaupt einen Zusammenhang zwischen den Morden und den Protesten gibt. Die These, dass die Protestbewegung mit Dschihadisten sympathisiere oder sich gar mit ihnen solidarisiere, sei höchst unwahrscheinlich, sagt Ratka. "Die Dschihadisten haben ihren Rückhalt in der Bevölkerung nahezu vollständig verloren. Die meisten Jordanier haben ganz andere Sorgen und setzen ihre Hoffnung nicht in Vertreter des extremistischen Islam." Nicht auszuschließen scheint, dass Extremisten bei den Protesten als politische "Trittbrettfahrer" agieren. Umgekehrt könnte theoretisch eine reale oder zumindest behauptete Involvierung von Dschihadisten das Protestlager moralisch schwächen oder der Regierung als Vorwand für eine härtere Gangart dienen.

Ausweitung der Streiks

Den Protesten vorausgegangen war ein Anfang Dezember begonnener Streik von Lastwagenfahrern und Busfahrern. Sie fordern eine Senkung der Kraftstoffpreise und die Abschaffung staatlicher Steuern. Im Zuge des Streiks kam es auch in anderen Regionen des Landes zu Unruhen. Inzwischen haben sie mehrere weitere Teile Jordaniens erfasst. Ende vergangener Woche schlossen sich auch zahlreiche Ladenbesitzer dem Streik an und hielten ihre Geschäfte geschlossen. Zudem kam es zu zahlreichen Sitzstreiks und Straßensperrungen. Auch viele Industriebetriebe blieben geschlossen.

An vielen Orten gab es Probleme mit dem Internet, die Kommunikation über die sozialen Medien war stark eingeschränkt. Die Polizeieinheit zur Bekämpfung von Cyberkriminalität teilte laut dem Nachrichtensender Al-Dschasira zufolge mit, sie habe das Videoportal TikTok gesperrt, um seinen "Missbrauch" zu verhindern.

Jordanische Sicherheitskräfte auf einem gepanzerten Fahrzeug in der Stadt Maan
Anspannung: Jordanische Sicherheitskräfte in der Stadt Maan, 16. Dezember 2022Bild: Khalil Mazraawi/AFP

Im Kontext der Proteste warnte der Parlamentsabgeordnete Ahmed al-Qatawneh vor einer weiteren Eskalation. "Wir können nicht garantieren, dass diese Proteste in den kommenden Tagen unter Kontrolle gebracht werden. Die Regierung muss ihre Verantwortung wahrnehmen und zurücktreten, da sie keinen Plan zur Lösung des Kraftstoffproblems hat. Was wir brauchen, ist eine Senkung der Treibstoffpreise", sagte er Medienberichten zufolge.

König Abdullah II. hingegen warnte die Demonstranten: Gegen jeden, der die Waffe erhebe, werde hart vorgegangen, erklärte er am vergangenen Freitag (16.12.).

Um den Demonstranten und Streikenden entgegenzukommen, hatte die Regierung in Absprache mit dem Parlament in der vergangenen Woche zunächst beschlossen, die LKW-Fahrer - viele von ihnen arbeiten auf eigene Rechnung - finanziell zu unterstützen und die Kerosinpreise während der Wintersaison nicht zu erhöhen. Zugleich beschloss der Bankenverband, fällige Ratenzahlungen im laufenden Monat kostenlos zu stunden.

Lebenshaltungskosten kaum noch bezahlbar

Doch die Demonstranten gaben sich unbeeindruckt. Sie sehen eine ihrer Hauptforderungen, die Senkung der Kraftstoffpreise, nicht erfüllt. Deren Höhe gründet wesentlich auf den Zuschlägen, die der Staat erhebt. Seit dem Jahr 2019 liegt der Steuersatz bei bleifreiem Benzin bei 121 Prozent, Benzin der Sorte Super '95 wird sogar mit 182 Prozent besteuert, Kerosin und Diesel mit 52 Prozent. Zudem hat die Regierung zu Beginn des laufenden Jahres den Dieselpreis um das Achtfache und den Benzinpreis um das Fünffache erhöht.

Die Erhöhungen treffen eine Bevölkerung, die nicht erst seit der Corona-Pandemie und nun dem russischen Angriff auf die Ukraine und der damit verbundenen Weizenkrise ohnehin bereits unter starkem ökonomischem Druck steht. Die Arbeitslosigkeit beträgt fast 20 Prozent, zudem macht auch chronischer Wassermangel dem Land zu schaffen.

Porträt von König Abdullah II. von Jordanien
Warnung vor weiterer Gewaltanwendung: der jordanische König Abdullah II.Bild: Hannibal Hanschke/AFP/Getty Images

"Viele Bürger fragen sich immer dringlicher, wie sie die steigenden Lebenshaltungskosten bezahlen können", sagt Jordanien-Experte Ratka. Heizöl, Diesel, überhaupt eine generelle Teuerungsrate: Vielen Menschen setze das zu. An diesen Fragen hätten sich bereits in früheren Jahre Proteste entzündet, die dann eine gewisse Eigendynamik entwickelt hätten, so Ratka. "Dann kann es leicht passieren, dass der Regierung Missmanagement vorgeworfen wird oder die ökonomische Spaltung der Gesellschaft die Menschen auf die Straße treibt." Ungewöhnlich sei aber das Ausmaß der derzeitigen Proteste.

Bevölkerung im Süden besonders von wirtschaftlicher Krise betroffen

Dass die Proteste ihren Ausgang im Süden Jordaniens genommen haben, sei nicht erstaunlich, sagt der Politikwissenschaftler André Bank vom German Institute for Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg. Dort liege der Schwerpunkt der jordanischen Transportindustrie, die unter den gestiegenen Energiepreisen besonders leide. Die Bewohner des südlichen Landesteile hätten sich gegenüber dem haschemitischen Königshaus lange Zeit als loyal erwiesen. Doch dies änderte sich, als diese Transportindustrie in den 1980er Jahren - nach dem Ende des iranisch-irakischen Krieges - in eine bis heute anhaltende Krise geriet. "Die dort lebenden Jordanier haben seit langem den Eindruck, von der Regierung aufgegeben und damit auch von wirtschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen zu sein. Das bringt sie gegen das Königshaus auf", so Jordanien-Experte Bank.

Brennende Autoreifen auf einer Straße nahe der Stadt Maan
Brennende Autoreifen auf einer Straße nahe der Stadt Maan, 16. Dezember 2022Bild: Khalil Mazraawi/AFP

Politische Reformen notwendig

Wie die Staatsführung die Demonstranten langfristig aber beschwichtigen will, ist derzeit unklar. Der König habe mit Blick auf Wirtschaft und Verwaltung zwar einige Reformen-Initiativen auf den Weg gebracht, sagt Edmund Ratka. "Aber die greifen noch nicht. Vielmehr scheint es, als gerate das bisherige Gesellschaftsmodell - wirtschaftliche Teilhabe gegen Loyalität gegenüber der Monarchie - an seine Grenzen." Mit einem Kollaps, Umsturz oder gewissermaßen verspäteten revolutionären "arabischen Frühling" in Jordanien rechnen Experten auf absehbare Zeit allerdings nicht.

Die Regierung sei auf Unterstützung von außen angewiesen, sagt der jordanische Polit-Analyst Sameh al-Mahariq. Diese erhält es freilich schon länger. "Jordanien empfängt massive Entwicklungshilfe, aus den USA ebenso wie aus Europa und den Golfstaaten", sagt André Bank. "Trotzdem mangelt es der Regierung an Ressourcen, um die Ansprüche der Bevölkerung zu befriedigen." Das, deutet er an, liege auch an hausgemachten Problemen. Das Land verzeichne ein massives Bevölkerungswachstum. Zugleich habe es einen aufgeblähten Staatssektor, verbunden mit einem hohen Maß an Korruption. Wollte die Regierung den Demonstranten dauerhaft entgegenkommen, müsste auch die politisch-gesellschaftliche Elite Abstriche machen. "Dass sie dazu bereit ist, ist zweifelhaft", meint Bank.

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika