"Look at me, I'm Chinese"
26. August 2010Die Tänzer hocken im Halbkreis auf der Bühne, mit der einen Hand klappern sie mit langen hölzernen Stäbchen, in der anderen halten sie bunte Plastikschalen. Ruhig und gelassen sitzen sie da, fast geistesabwesend. Gleich darauf bricht dieses klischeebeladene Essstäbchen-Bild. Die Tänzer entledigen sich ihres Geschirrs und tauchen stattdessen in rasante Bewegungen ein, laufen über die Bühne, verharren plötzlich, lehnen sich aneinander an, um sich gleich darauf wieder abzustoßen.
Chinesische Knochen und Bewegungen
Abrupte, abgebrochene Bewegungen sind sicherlich nichts Neues im zeitgenössischen Tanz. Umso ungewohnter sind sie für chinesische Tänzer, die traditionell eher in harmonischen Massenchoreografien geschult werden. "Es ist wirklich seltsam", sagt der Tänzer Er Gao. "Wenn ich im Ausland bin, sagen die Leute immer, ich wäre so chinesisch. Wenn ich in China bin, sagen alle hingegen ich wäre so westlich." Obwohl er anders als seine Mittänzer nie traditionelle chinesische Tänze einstudierte, hat er das Gefühl, dass "irgendetwas Chinesisches in seinen Knochen und Bewegungen stecke". Die deutsche Tanzcompagnie Rubato verstehe es sehr gut, fügt er hinzu, dieses undefinierbar Chinesische zu integrieren. Bereits seit 15 Jahren erarbeiten die deutschen Choreografen Jutta Hell und Dieter Baumann, die auch "Look at me, I’m Chinese" initiiert haben, Stücke in China.
Dieses Mal haben sie versucht, so weit wie möglich im Hintergrund zu bleiben. So wird Dieter Baumann nicht müde zu betonen, dass dieses Stück nicht "made in China" sei, sondern "created in China" - also kein westlicher Kulturimport, sondern eine gemeinsame Arbeit.
Tanz der neuen Generation
Drei Monate hatte Rubato mit den Tänzern das Stück in Shanghai entwickelt, finanziert durch die deutsche Kulturstiftung des Bundes. "Wir wollten der jungen Generation, die so sehr durch äußere Einflüsse wie Internet oder die sogenannte Globalisierung beeinflusst wird, eine Möglichkeit geben, von ihrem Alltag zu erzählen. Was ist ihr wichtig? In was für Verhältnissen lebt sie? Wie viel Tradition steckt in ihr trotz der rasanten Veränderungen?"
Das Stück beantwortet tatsächlich all diese Fragen. Zunächst einmal irritiert den deutschen Zuschauer vielleicht der selbstironische Blick auf China als Werkbank der Welt und Hersteller von billigen Markenfälschungen. Wie ein Mantra betet Tänzerin Li Ling Xi beispielsweise westliche Mode-Marken vor, tastet dabei in immer schneller werdenden Bewegungen ihren Körper ab.
Unterwäsche in China-Rot
Ihre männlichen Tanzkollegen bieten derweil den Zuschauern Kleidung, DVDs, Massagen und selbst eine Niere zum Verkauf an. Und ein Solo von Wang Hao endet damit, dass die Tänzer sie mit hölzernen Essstäbchen entkleiden, bis sie in Unterwäsche in China-Rot mit dem weltweit bekannten Schriftzug "Calvin Klein" in der Mitte der Bühne steht. Während die deutschen Zuschauer über manch ironische Einlage lachen, kamen diese bei einer öffentlichen Probe in Shanghai nicht so gut an. Viel zu kritisch empfanden einige Chinesen das gezeigte Bild ihres Landes.
Aber auch chinesische Tradition und Disziplin ist immer wieder Teil der Choreografie: die Tänzer binden Morgengymnastik ebenso ein wie Massentänze und Folklore. Manche dieser Anleihen enden in erschöpfenden, hektischen Endlosschleifen. "In China leben so viele Menschen, wir brauchen manchmal einfach eine gewisse Disziplin", sagt Tänzerin Liu Yanan. "Wenn sie zum Beispiel in der U-Bahn zur Rush Hour nicht der Masse folgen, kommen sie nie ans Ziel. Stellen sie sich einmal vor, wie ihr Leben aussehen würde, wenn in Berlin dreimal so viele Menschen leben würden. Wir sind Disziplin gewöhnt, aber wir folgen ihr nicht immer, wir wehren uns gegen veralteten und unnützen Gehorsam."
Tänzer sind Soldaten
Die sechs chinesischen Tänzer sind Freiberufler - eine Seltenheit in China. Dort ist die Tanzausbildung fast ausschließlich dem Militär unterstellt, Tänzer sind also Soldaten, die für besondere Erfolge mit Militärabzeichen und höheren Diensträngen geehrt werden. Zu eng ist diese Tanzwelt den Tänzern von "Look at me, I'm Chinese" - so halten sie sich stattdessen lieber mit spendenfinanzierten Auftritten, internationalen Produktionen oder als Mitglied einer der wenigen chinesischen Modern-Dance-Tanzcompagnien über Wasser. Und sie tun gut daran, sich als freie Tänzer durchzuschlagen - denn nur so können die deutschen Zuschauer vom Alltag der neuen Generation erfahren, von der Hektik der Städte, der Überforderung des rasanten Wandels, aber auch von der unerschöpflichen Vitalität der Chinesen. Die Freude, sich über Bewegung mitteilen zu können, ist den Tänzern deutlich anzumerken.
Die Zuschauer belohnen diese Tanzfreude mit einem lang anhaltenden Applaus - die Tänzer geben daraufhin jeweils ein kurzes Solo als Zugabe. Was bei westlichen Tänzern vielleicht eher albern oder selbstdarstellerisch anmuten könnte, wirkt hier sehr sympathisch, stolz und ungemein authentisch.
Autorin: Nadine Wojcik
Redaktion: Mathias Bölinger