Ewige Meisterwerke
24. September 2008DW-WORLD.DE: Herr Maazel, für Sie beginnt die letzte Saison mit den New Yorker Philharmonikern. Wenn Sie zurückblicken, was waren für Sie die Höhepunkte?
Lorin Maazel: Ich denke, dass viele unserer Weltpremieren sehr erfolgreich waren. Und ich denke, unsere Zyklen – der Beethoven-Zyklus, der Brahms-Zyklus, der Tschaikowsky-Zyklus und der Mahler-Zyklus - waren prägend. Und natürlich unsere erfolgreichen Tourneen – dies ist unsere zweite Europa-Tournee. Wir waren auch in Japan und natürlich in den Vereinigten Staaten. Ich denke, das Orchester ist eines der besten der Welt, obwohl man keine Vergleiche ziehen sollte. Jeder bedeutende Künstler und jedes bedeutende Orchester ist auf seine eigene Weise gut. Aber nichtsdestotrotz ist das Orchester ein hervorragendes Ensemble und ich bin sehr glücklich, dass es als das anerkannt wird, was es ist.
Was wird das Orchester von Ihnen mitnehmen und was werden Sie von ihm mitnehmen?
Ich habe viel vom Orchester gelernt, besonders auf der menschlichen Ebene. Es sind wundervolle, hingebungsvolle Musiker, die auf einem sehr hohen Standard spielen, den sie sich selbst setzen. Sie üben ihren Beruf mit vollem Stolz aus und es ist für sie eine Ehre, Teil der New Yorker Philharmoniker zu sein. In seiner 168-jährigen Geschichte hatte das Orchester gerade einmal 2000 Mitglieder, die Fluktuation war also sehr gering. Nach 60 Jahren im Orchester wird zum Ende der Saison unsere erste Klarinette in Ruhestand gehen. Ich glaube, das ist eine Art Rekord. Das ist eines der Wesensmerkmale des Orchesters, was sehr lehrreich für mich war.
Das Orchester hat von mir musikalischen Disziplin und eine Stärkung seines Glaubens an sich selbst erfahren, den manche verloren hatten. Ich dachte, es sei meine erste Aufgabe, ihnen den Glauben an sich selbst zurückzugeben. Ein selbstbewusster Musiker spielt viel besser. Dann engagierte ich 25 junge Musiker, offensichtlich brachte dies dem Orchester ein virtuoses Rückgrat. So senkte ich das Durchschnittsalter um etwa 20 Jahre. Damit ist das Orchester voll von Hoffnung und Enthusiasmus – was die Deutschen Schwung und die Franzosen Elan nennen.
Sie sind zur Zeit sozusagen der leitende Dirigent eines alten Orchesters in der neuen Welt, aber Sie dirigierten auch neue Orchester in der alten Welt.
Ich war Musikdirektor der Symphonica Toscanini und werde mit ihnen als Gastdirigent weiterarbeiten. Ich war auch Musikdirektor des Opernhauses in Valencia. Ich bin gerade dabei, ein neues Orchester zusammenzustellen. Bis zum Ende der Saison 2008/2009 werde ich drei komplette Spielzeiten geleitet haben. Ich werde das Orchester ebenfalls verlassen und völlig unabhängig sein. Wenn ich möchte, kann ich jederzeit als Gastdirigent zurückkehren.
Ich habe noch einige Monsterprojekte vor mir: vor allem meine Oper "1984". Wir hatten so viele Anfragen für Premieren aus den verschiedensten Städten der Welt, dass wir nicht wussten, was wir tun sollen. Meine Aufgabe ist es auch, das alles zu organisieren. Und schließlich werde ich auch noch etwas Zeit zum Dirigieren haben. Seitdem ich die Oper, die 2005 Premiere hatte, beendet habe, hatte ich nicht die Möglichkeit, auch nur eine Note niederzuschreiben – was ich wirklich bereue. Aber mir bleiben noch mehrere Projekte.
Ich werde auch mein eigenes kleines Festival auf meinem Privatgrundstück in Virginia – das sogenannte Castleton Festival – ausrichten, das am 4. Juli, unserem Unabhängigkeitstag, in Castleton, Virginia, stattfinden wird. Es ist ein Kammeropernfestival, bei dem sich junge Musiker, Sänger, Regisseure und Dirigenten von einigen der besten Musiker beraten lassen können. Dafür opfere ich sehr viel Energie.
Sie haben gerade erst Anton Bruckners 8. Symphonie dirigiert. Was ist heute die Wirkung von Bruckners Musik?
Die Wirkung eines Meisterstücks und eines Meisters stirbt nie. Das habe ich immer wieder festgestellt. Wir waren eben erst in China. Ich glaube nicht, dass die Chinesen jeden Tag westliche Musik hören, zumindest nicht in der Art, wie wir sie spielen. Aber sie reagierten, als ob sich der Himmel aufgetan und ein Buch der Wunder preisgegeben hätte. Bei jedem Konzert waren so viele junge Leute. Niemand erklärte ihnen irgendetwas, aber man musste es auch nicht. Ein Meisterwerk kann für sich alleine stehen.
Bruckner wird weiterhin seinen Platz einnehmen und auch weiterhin Menschen erreichen – wenn er von Leuten aufgeführt wird, die an seine Botschaft glauben. Das ist sehr wichtig.
Meisterstücke sind auf die Gnade ihrer Interpreten angewiesen. Das ist auch der Grund, warum ich so heftig gegen grauenhafte Aufführungen großartiger Opern bin, die nur dazu dienen, die Eigenarten und Durchhänger, Probleme und psychologische Blockaden, die so viele Regisseure haben, zu befriedigen. Sie nutzen die Bühne nur, um ihre eigenen Probleme hervorzubringen. Das ist nicht der Grund, weshalb Theater funktioniert. Es existiert, um die Hauptpunkte eines Meisterstücks hervorzuheben – vielleicht in einem anderen Licht.
Wenn Leute reden, wie ich es tue, werden sie angeklagt, konservativ zu sein. Nehmen Sie zum Beispiel die Aufführung meiner Oper "1984": Sie ist nur wenig konservativ – sie ist wild, sie ist modern, sie ist zeitgenössisch. Aber das ist normal, das ist gesund. Ich denke, dass jede Anstrengung unternommen werden sollte, um die ungesunden und destabilisierenden Leute außen vor zu halten. Denn damit erweist man den Mozarts und Beethovens, den Verdis und Puccinis ganz einfach einen großen Dienst. Meisterwerke überdauern alles.
Ich bin kein Reformer. In fünf Jahren werden all diese Menschen vergessen sein, aber die Verdis und Puccinis nicht. Das ist einer der Gründe, warum ich so angetan bin von meinem Festival. Wir haben eine sehr moderne, zeitgenössische Aufführung von Benjamin Brittens Oper, die wir jetzt für eine Weile exklusiv aufführen werden. Er war womöglich der großartigste Komponist der Kammeroper im 20. Jahrhundert. Sehr modern, aber sehr normal und gesund. Ich hoffe, dass wir mit positiven Aussagen und mit dem Angebot von alternativen Aufführungen, die gesund und zeitgenössisch sind und junge Leute ansprechen, verdeutlichen können, dass man Meisterstücke aus der Vergangenheit nicht in abnormale Spektakel verwandeln muss, um sie am Leben zu erhalten. Die einzige Sache, die wirksam ist, ist das Angebot alternativer Lösungen und darum geht es beim Castleton Festival in Virginia.