Last-Minute-Diplomatie vor dem Ukrainekrieg
3. Juli 2022Es ist der 20. Februar 2022 - vier Tage später wird Russland die Ukraine angreifen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron versucht ein letztes Mal in einem verzweifelten Telefonat mit Präsident Wladimir Putin, Russland von dieser Invasion abzuhalten.
Das knapp zweistündige Gespräch ist eine Schlüsselszene in der Dokumentation "Der Präsident, Europa und der Krieg" des Journalisten Guy Lagache. Er hat die französische Regierung während ihrer EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2022 beobachtet.
Das Telefonat zwischen Macron und Putin verfolgen die diplomatischen Mitarbeiter des französischen Präsidenten im Nebenraum über Lautsprecher. Sie verfassen Notizen und unterstützen Macron mit Hinweisen per Direktmitteilungen.
Vermeintliche Vertrautheit
Die beiden Präsidenten sprechen sich mit dem Vornamen an und duzen sich. Macron eröffnet sehr direkt: "Wladimir, könntest Du mir zuerst Deine Einschätzung der Situation erläutern? Und ganz offen - so wie es unsere Art ist - Deine Absichten erklären?"
Putin darauf, eher indifferent: "Was soll ich sagen? Du weißt ja, was passiert ist." Die Ukraine verletze die Minsk-Vereinbarungen von 2014 und 2015, mit denen der Krieg mit den Russland-treuen Separatisten im Osten der Ukraine beendet werden sollte. Putins Vorwurf, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wolle angeblich Atomwaffen haben, löst bei Macrons Beratern Kopfschütteln aus. Und der russische Präsident legt nach: "Unser lieber Kollege Selenskyj" tue nichts, um die Minsker Vereinbarungen umzusetzen. "Er lügt Euch an."
"Die Komplexität der Politik"
Die Dokumentation zeigt Macrons Last-Minute-Diplomatie hinter den Kulissen - seine Telefonate und Treffen mit Putin, die ja am Ende erfolglos blieben.
Er wolle zeigen, wie Politik, wie die Komplexität der Politik funktioniert - insbesondere in Zeiten von Populismus und in diesem Fall durch den Krieg, sagte Lagache bei der Filmpremiere in Paris.
Der französische Präsident hat seine diplomatische Beharrlichkeit und sein Festhalten an einem offenen Gesprächskanal mit Putin immer verteidigt. Seine Kritiker hingegen werfen ihm Selbstüberschätzung und Naivität vor, wenn er glaube, er könne auf Putin Einfluss nehmen.
"Mich hat interessiert, warum Macron weiter mit Putin spricht, obwohl dieser lügt und seine Truppen Kriegsverbrechen begehen. Was ist seine politische Strategie, wenn er immer wieder sagt, Russland dürfe nicht gedemütigt werden?", sagte Lagache in einem Radiointerview.
Streit um Legimität
In dem Telefonat vom 20. Februar gibt es einen Punkt, wo Macron laut wird. Er widerspricht Putin, der verlangt, Forderungen der Separatisten umzusetzen. "Ich weiß nicht, wo Deine Anwälte Recht und Gesetz gelernt haben, wenn sie sagen, dass in einem souveränen Staat die Separatisten und nicht die demokratisch gewählte Regierung die Gesetzestexte vorschlagen". Putin kontert, die ukrainische Regierung sei nicht demokratisch gewählt. "Sie kam durch einen blutigen Putsch an die Macht. Menschen wurden bei lebendigem Leib verbrannt." Es sei ein Blutbad gewesen, so der russische Präsident.
Macron versucht sich trotz dieser angespannten Situation als Mediator. Er bietet an, mit Selenskyj zu sprechen und bittet Putin, seine Truppen an der Grenze zurückzuziehen, um die Gesamtlage zu beruhigen. Zudem schlägt er ein Treffen mit dem amerikanischen Präsidenten Joe Biden in Genf vor. Putin stimmt dem im Prinzip zu, sagt aber auch, er wolle sich mit seinen Beratern abstimmen.
Der Chef des französischen diplomatischen Dienstes ist an dieser Stelle im Film zu hören, wie er sagt: "Putin lügt immer." Zu dem Treffen ist es bekanntermaßen nicht gekommen. Stattdessen ist Russland in die Ukraine einmarschiert.
Putins Prioritäten werden auch am Ende des Telefonats überdeutlich. "Ich danke Dir, Emmanuel. Es ist immer eine Freude mit Dir zu sprechen, weil wir eine vertrauensvolle Beziehung haben." Und dann fügt er hinzu: "Ich möchte nichts vor Dir verbergen, aber ich möchte jetzt Eishockey spielen."
Adaption aus dem Englischen: Sabine Faber