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Drill und Misshandlung

Karin Jäger27. Juni 2012

Sie galten als verhaltensgestört oder schwererziehbar. Heimkinder wuchsen in der DDR mit Drill auf, wurden misshandelt und mussten bis zur totalen Erschöpfung arbeiten. Nun haben sie Anspruch auf Wiedergutmachung.

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Bücher und Akten wurden geschrieben über das Leben von DDR-Heimkindern. Copyright: DW/Karin Jäger 14.06.2012
DDR-Heimkinder EntschädigungBild: DW/K.Jäger

Ralf Weber wirkt wie ein Bär von einem Mann, muskelbepackt und doch steckt ganz viel Kind in ihm. Er sagt, er habe Probleme, anderen zu vertrauen, sich zu binden, außer an seine Mutter. Der fast 57-Jährige wohnt mit seiner Frau in einem gemütlichen Haus in direkter Nachbarschaft zu seiner Mutter. "Die Sehnsucht nach meiner Mutter hält bis heute an", gesteht er. Freiwillig würde ich mich nie von ihr trennen." Und dann beginnt er, seine ganze Geschichte zu erzählen.

Brutalität hinter hohen Mauern und Gittern

Ralf ist sechs Jahre alt, als die DDR-Jugendfürsorge ihn 1961 seiner Mutter wegnimmt. Die ist alleinerziehend und voll berufstätig, hat Verwandte in Westdeutschland, was das Regime in Ostberlin mit Argwohn betrachtet. Der Junge wird als überdurchschnittlich intelligent eingestuft. Da er zuhause tagsüber meist sich selbst überlassen ist, weisen die Behörden ihn in ein Heim ein. Er sei milieugeschädigt, hört er später, ohne eine Erklärung zu erhalten, worauf sich der Begriff begründet. Seine Mutter erfährt nach der Arbeit, dass die Staatsmacht ihr einziges Kind mitgenommen hat.

Ralf Weber verbrachte zwölf Jahre in Erziehungsheimen der DDR. Durch seine erfolgreiche Klage vor dem Bundesverfassungsgericht können bis zu 400.000 Opfer auf Entschädigung hoffen. Copyright: DW/Karin Jäger 14.06.2012
Opfer und Ankläger Ralf WeberBild: DW/K.Jäger

Gleich vom ersten Abend an wird Ralf im Heim verprügelt: Mit Gürtelschnalle, Schlüsselbund und allem, was Schmerzen bereitet. Sein Leben wird ab sofort bestimmt von militärischem Drill, Schlafentzug und durch Einhaltung eines strikten Tagesplanes, in Unfreiheit, ohne Recht auf Eigentum. Aufseher misshandeln ihn unter der Dusche oder in der Einzelzelle, schlagen ihn bis zur Bewusstlosigkeit. Der Junge beginnt, sich einzunässen, verkriecht sich am liebsten unter der Bettdecke.

Schlafraum eines Spezielkinderheimes, GJWH Torgau. Copyright: DIZ Torgau
Einblick in den Schlafraum eines KinderheimesBild: DIZ Torgau

Die Willkür des DDR-Regimes

Die Erzieher in den Kinderheimen wollen seinen Willen brechen, mit aller Gewalt. Irgendwann landet Ralf Weber im Jugendwerkhof Torgau, einem Gefängnis gleich. Hinter hohen Mauern, vergitterten Fenstern, umgeben von Wachtürmen, grellen Scheinwerfern und scharfen Hunden soll er Arbeiten lernen. "Durch die Brutalität, die mir widerfahren ist und die Extremsituationen, die ich erlebt habe, sind die Erinnerungen bis heute manifestiert. Ich habe noch so viele Bilder im Kopf, und die kriege ich nicht wieder weg."

Ralf Weber sagt, er erinnere sich noch an die Namen fast aller Erzieher in den Heimen, in denen er seine Kindheit verbracht hat - zwölf Erziehungsanstalten in neun Jahren, dann Einweisung in die Psychiatrie, wo ihm Psychopharmaka und andere Medikamente verabreicht werden, um deren Wirkung zu erforschen - ohne sein Einverständnis.

Schocktherapie zur Zerstörung der Persönlichkeit

Sport- und Drillplatz für Jungen, auf dem Gelände des Jugendwerkshofes Torgau. Copyright: DIZ Torgau
Drillplatz für Jungen in TorgauBild: DIZ Torgau

Solidarität unter den Heimkindern gibt es nicht. Wird einer bestraft, dürfen die anderen dafür einmal fernsehen. Alles ist Kalkül. "Das Repressive des DDR-Systems war, dass sie genau wussten, wie sie auf Familien einwirken können. Die DDR hat versucht, die Leute zu manipulieren und wenn das nicht gelang, wurden Familien auseinandergerissen. In ihrer politischen Ausrichtung hat sie genau auf diese Methode gesetzt", bilanziert Ralf Weber. Er ist 26 als das DDR-System ihn sich selbst überlässt, in der Erwartung, "dass ich funktioniere, dass ich keine reife und selbstbestimmte Persönlichkeit entwickelt habe."

Das Leben in der "Freiheit" der DDR

Über das erlebte Grauen zu erzählen wird ihm verboten. Im Geheimen schwört er, es den Tätern heimzuzahlen. Er holt seinen Schulabschluss nach, absolviert eine Schlosserlehre. Einen qualifizierten Job bekommt er in der DDR dennoch nicht. Aber er kann eigenständig sein Einkommen verdienen. Er erhält sogar die Erlaubnis, seinen Onkel in Westdeutschland zu besuchen. "Die Staatssicherheit wollte, dass ich nicht wieder komme." Aber diesen Gefallen tut Weber dem Geheimdienst nicht.

Der Kampf um Anerkennung des Unrechts

Erst mit dem Zusammenbruch der DDR 1990 kann Ralf Weber beginnen, sich der Aufarbeitung seiner Geschichte zu stellen. "Was mir widerfahren ist, ist mit normalen menschlichen Maßstäben nicht zu erfassen", sagt er heute.

GJWH Torgau. Copyright: DIZ Torgau
Jugendwerkhof Torgau - Gefängnis für HeranwachsendeBild: DIZ Torgau

Als er erfährt, dass politisch Verfolgte des DDR-Regimes rehabilitiert werden sollen, stellt Weber 1991 einen entsprechenden Antrag, denn er kann nachweisen, dass er von 1973 bis 75 aus politischen Motiven inhaftiert wurde. Er enthält für die "Freiheit entziehenden Maßnahmen" eine finanzielle Entschädigung. Damit sind für Ralf Weber noch immer nicht die Vorkommnisse in der Heimerziehung zwischen 1961 und 1973 aufgedeckt und gesühnt.

Im Alleingang vor die Gerichte

Einen Anwalt kann er sich nicht leisten. Als Folge seines Martyriums und der schlechten Ernährung in den Heimen, ist er erwerbsunfähig. Also schreibt er selbst die Gerichte an mit der Bitte, für die Heim-Unterbringung eine Entschädigung zu erhalten. 2004 stellt das Berliner Kammergericht fest, dass es keinen Anlass gab, die Jugendlichen im Jugendwerkhof Torgau einzusperren, weil nicht nachgewiesen werden kann, dass die Minderjährigen kriminell waren. Auch die körperlichen Züchtigungen und Misshandlungen waren rechtsstaatswidrig.

Gerichtsurteil des Bundesverfassungsgerichts. Das ehemalige DDR-Heimkind Ralf Weber hatte vor dem Gericht geklagt. Copyright: DW/Karin Jäger 14.06.2012
Ralf Weber hat das Urteil schwarz auf weißBild: DW/K.Jäger

Ralf Weber macht die Erfahrung, dass die Rechtssprechung in der Bundesrepublik funktioniert und es sich lohnt, für sein Recht zu kämpfen. Er zieht vor das Bundesverfassungsgericht. Die Richter entscheiden 2009, dass Kinder und Jugendliche, die in der DDR in Heimen untergebracht waren "aus sachfremden Gründen oder zum Zwecke der politischen Verfolgung", ein Anrecht auf Rehabilitation haben. Darunter fallen Kinder, die ohne triftigen Grund weggesperrt wurden oder Kinder, die benutzt wurden, um regimekritische Eltern zu erpressen, die sich gegen den Staatsapparat auflehnten oder in den Westen ausreisen wollten.

Politiker bewilligen Entschädigungsleistungen

Auch bei Politikern verschafft sich Ralf Weber Gehör. Er kommt bei einer Anhörung im Bundestag zu Wort, ehe das Parlament und die Bundesländer entscheiden, einen Hilfsfonds für DDR-Heimkinder in Höhe von 40 Millionen Euro einzurichten. Denn Experten haben errechnet, dass zwischen 1949 und 1990 in der DDR insgesamt 300.000 bis 400.000 Kinder und Jugendliche in Heimen aufwuchsen.

Vom 1. Juli 2012 an können sich Betroffene an staatliche Stellen wenden, die es jetzt in allen Bundesländern gibt. Hilfeleistungen im Umfang von bis zu 10.000 Euro sollen gewährt werden für Therapien, die die Krankenkassen nicht bezahlen. Jugendliche, die in gefängnisähnlichen Jugendwerkhöfen unentgeltlich arbeiten mussten, werden pro Monat mit 300 Euro entschädigt.

Für Ralf Weber sind nicht die Summen entscheidend, die abgerufen werden können. "Die Politik erkennt an, dass es Unrecht gegeben hat und ist insofern bereit, uns ein Geschenk zu machen. Das ist doch wie Weihnachten. Punkt. Ende. Aus", fügt er hinzu. An dieser Stelle könnte die Geschichte enden.

ARCHIV - Der ehemalige Insasse Ralf Weber (54) steht am 07.11.2009 in einer Zelle im Dunkelzellentrakt des ehemaligen Geschlossenen Jugendwerkhofes Torgau. Mit einem 40 Millionen Euro Hilfsfonds wollen die ostdeutschen Länder und der Bund ehemalige DDR-Heimkinder entschädigen. Die Kinder und Jugendlichen seien in den Spezialheimen und Jugendwerkhöfen Gewalt und sexuellem Missbrauch ausgesetzt gewesen, sagte Thüringens Sozialministerin Taubert (SPD) am Mittwoch (21.03.2012) in Erfurt. Foto: Peter Endig dpa/lth (zu lth 0024 vom 21.03.2012) +++(c) dpa - Bildfunk+++
Rückkehr nach Torgau - Ralf Weber im DunkelzellentraktBild: picture-alliance/dpa

Stasi tolerierte sexuellen Missbrauch

Für Weber wird der Kampf allerdings weitergehen. Er will wissen, wie das DDR-Regime Begriffe wie milieugeschädigt, Rowdytum oder Schulschwänzen definierte, mit denen die Kinder und Jugendlichen belastet und weggesperrt wurden. Er will herausfinden, warum er von seiner Mutter getrennt wurde. Sein Ziel ist es, ein strafrechtliches Rehabilitationsgesetz durchzusetzen.

Und ein weiteres düsteres Kapitel der DDR-Geschichte will er aufdecken: den sexuellen Missbrauch von Mädchen in den Kinderheimen. "Die Staatssicherheit hat die Übergriffe auf weibliche Jugendliche in Torgau sogar schriftlich dokumentiert. Das kann man alles nicht in Worte fassen", sagt Ralf Weber fassungslos und fordert alle Opfer auf, sich zu offenbaren, denn "wir müssen mit den Darlegungen jeder Einzelnen Zeugnisse haben, um zu verhindern, dass es einmal eine Gesellschaft gibt, die sich wieder so entwickeln kann."