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Museum für den "Vater der sozialen Marktwirtschaft"

3. Oktober 2019

In Fürth wurde das Fundament gelegt für Deutschlands "Wirtschaftswunder" der Nachkriegsjahre. Timothy Rooks hat sich in der Heimat des populären Wirtschaftsministers und späteren Bundeskanzlers umgesehen.

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Portrait Alt-Bundeskanzler Ludwig Erhard
Bild: AP

Fragt man irgendeinen Amerikaner, wer Ludwig Erhard gewesen sein mag, erntet man höchstens einen verständnislosen Blick. Fragt man einen Deutschen, wird der irgendetwas von einem dicken, älteren Herrn erzählen, der ständig auf einer Zigarre herumgekaut hat.

Stellt man diese Frage aber einem Menschen in Fürth, einer kleinen Stadt in Franken im Norden des Freistaates Bayern, wird er einem sofort das Haus zeigen, in dem Ludwig Erhard aufgewachsen ist. Heute ist hier das LEZ, dasLudwig-Erhard-Zentrum, untergebracht, das Werk und Leben des früheren Ministers und Bundeskanzlers gewidmet ist, der als der Vater des Wirtschaftswunders gilt. 

BG Ausstellung im Haus der Geschichte Bonn | Zugespitzt. Kanzler in der Karikatur
Der "Vater des Wirtschaftswunders" in der Karikatur: Ludwig Erhard, die Wirtschaftslokomotive.Bild: Klaus Pielert

Eine ganz normale kleine Stadt

Fürth ist eine mittlere Stadt wie viele andere in Bayern, doch hat es einige bekannte Namen hervorgebracht: neben Ludwig Erhard auch den früheren US-Außenminister Henry Kissinger und den Unternehmer Max Grundig.

Die 130.000-Einwohner-Stadt hat einen malerischen Stadtkern mit vielen Gebäuden aus dem 19. Jahrhundert - mit Schiefer verkleidete Wände oder Fachwerkhäuser. Viele andere verweisen auf eine noch ältere Geschichte und das Rathaus sieht aus, als habe man es aus der Toskana importiert. Die Stadt ist sauber und überall blühen Blumen.

Doch dieses eindrucksvolle Bild des Wohlstandes ist auch ein Ort, den man sich als Wiege des Wirtschaftswunders vorstellen kann - jenes wundersam anmutenden Wiederaufstieges Deutschlands zur Wirtschaftsmacht nach den beiden verlorenen Kriegen des vergangenen Jahrhunderts.

Denn in Fürth hat Ludwig Erhard viele seiner ökonomischen Ideen entwickelt. Schaut man auf die Entwicklung der vor 70 Jahren gegründeten Bundesrepublik Deutschland, dann war es wohl Erhards "soziale Marktwirtschaft", mit der sich das Land zu Europas mächtigster Volkswirtschaft entwickeln konnte.

Wo alles begann

Das Ludwig-Erhard-Zentrum gibt es seit etwas mehr als einem Jahr und es ist bereits von fast 50.000 Menschen besucht worden - deutlich mehr als die ursprünglich erwarteten 25.000 bis 30.000. Es soll Wirtschaft und Geschichte verständlich und unterhaltsam erklären. Es ist schon zu einem Favoriten für historisch Interessierte, für Politiker und für Schulklassen geworden.

Dass ein Museum, das der Geschichte der deutschen Wirtschaft gewidmet ist, so erfolgreich ist, überrascht auch Evi Kurz, die das Projekt ins Leben gerufen hatte: "Wir haben sehr viele Anfragen, vor allem auch für Führungen. Deshalb haben wir jetzt den vierten Mitarbeiter in der Museumspädagogik eingestellt. Viele sagen uns, dass sie das, was sie bei uns Interessantes sehen und erleben, nie erwartet hätten."

Im Gespräch mit der DW erinnert sie sich "an den Besuch einer Professorin für Volkswirtschaft. Sie war mit Ihren Eltern da, sehr gebildete Leute, und mit drei Kindern im Alter zwischen neun und 14 Jahren. Die Familie war fast vier Stunden im LEZ. Für alle Altersgruppen für die Eltern, die Großeltern und für die Kinder war etwas dabei. Wir scheinen also ein bisschen etwas richtig gemacht zu haben."

Ludwig Erhard Zentrum
Alt und neu, ganz nah beieinander: Das Ludwig-Erhard-Zentrum im beschaulichen Fürth.Bild: DW/T. Rooks

Das Zentrum ist zum Teil in Erhards früheren Haus untergebracht, in dem sich auch das Textilgeschäft der Familie befunden hatte. Auf der anderen Straßenseite steht ein Neubau mit noch mehr Ausstellungsräumen und Platz für Veranstaltungen.

Die Ausstellung ist chronologisch organisiert und verbindet Erhards Biographie mit den politischen und wirtschaftlichen Bedingungen seiner Zeit. Sie ist gespickt mit interaktiven Hightech-Features, Videos und Audios. Dazu werden Relikte aus Erhards Leben gezeigt wie Fotos und Briefe und Erinnerungsstücke aus den ersten Weltkrieg. Außerdem wird gezeigt und erklärt, wie er beim Versuch, das elterliche Geschäft in schwierigen Zeiten zu retten, scheiterte. Er hatte so erlebt, wie normale Leute leiden, wenn es wirtschaftlich drunter und drüber geht.

Der Mann der Stunde

Mit dem Ende des zweiten Weltkrieges erlebte Deutschland eine vollkommene Niederlage, das Land lag in Trümmern und war unter den vier Siegermächten aufgeteilt. Jede Maschine im sowjetisch besetzten Teil des Landes, die noch funktionierte, wurde demontiert und in die Sowjetunion gebracht. Die Infrastruktur musste neu aufgebaut werden, Jobs geschaffen werden. Die Alliierten rationierten die Lebensmittel, Löhne und Preise wurden festgelegt. Doch diese Maßnahmen stärkten nur den sogenannten schwarzen Markt. Die städtische Bevölkerung tauschte ihren über den Krieg geretteten Wohlstand bei der Landbevölkerung gegen Lebensmittel ein. Dieses aus der Verzweiflung geborene Verhalten nannte man "hamstern".

Als Rezept dagegen führten die Amerikaner eine neue Währung ein: die Deutsche Mark, was zu mehr Stabilität führen sollte. Die Arbeiter wurden nun mit etwas bezahlt, für das sie sich auch etwas kaufen konnten.

An diesem Punkt trat nun Ludwig Erhard auf den Plan. Diese Maßnahmen reichten ihm nicht und - ob nun mit Zustimmung der Alliierten oder ohne ist nicht geklärt - kassierte er quasi über Nacht die Preiskontrolle. Ein riskantes Manöver: Die Preise gingen sofort durch die Decke, es gab Unruhen und Streiks. Doch die Menschen hörten auf zu hamstern und die Läden waren plötzlich voll. Innerhalb weniger Monate schoss die Produktion in die Höhe, die Menschen verdienten mehr.

Ludwig Erhard Zentrum
Der Stoff, aus dem das Wirtschaftswunder bestand: Die Deutsche Mark.Bild: DW/T. Rooks

Riskantes Manöver

Erhard glaubte an sein Manöver, aber er hatte auch Glück. Während seiner Zeit als Wirtschaftsminister von 1949 bis 1963 gab es einen Überschuss hochqualifizierter Arbeiter, die nun für weniger Lohn arbeiten mussten. Darüber hinaus gab es einen gewaltigen "Braindrain" zugunsten der westlichen Besatzungszonen durch die aus der sowjetisch besetzten Zone geflohenen Menschen. Die gewaltigen Staatsschulden konnten so bis 1953 halbiert werden, was der Regierung mehr Handlungsspielraum ließ.

Aber Erhard hatte weitergehende Pläne. Während Ostdeutschland den Weg in die Planwirtschaft einschlug und die USA mit ihrem Einfluss den freien Markt förderten, schuf Erhard die soziale Marktwirtschaft. Diese fußte auf den Kräften des freien Marktes, schloss aber als wichtiges Extra die Arbeitnehmermitbestimmung in Schlüsselfragen, wie bei Löhnen und Arbeitsbedingungen, durch ihre Vertretung auf verschiedenen Ebenen mit ein.

Zum Lernen ist es nie zu früh

Manchen scheint das wie ein Ausflug in ein Seminar für neuere Geschichte vorzukommen, besonders seit der deutschen Vereinigung vor 30 Jahren. Aber die soziale Marktwirtschaft wird auch heute noch als wichtiger Grundstein für den anhaltenden wirtschaftlichen Erfolg des Landes gesehen. Das Ludwig-Erhard-Zentrum zeigt, dass jeder von der Vergangenheit lernen kann und dass das Studium der Wirtschaftsgeschichte eine wichtige wissenschaftliche Disziplin ist.

"Wirtschaft geht uns alle an. Wirtschaft beginnt mit dem Taschengeld, mit dem Einkaufen. Jeder Jugendliche hat ein Handy. Wirtschaftskunde müsste in jeder Schulart vertreten sein und schon in der ersten Klasse beginnen", sagt Evi Kurz, als sie den Kinder-Supermarkt im Museum zeigt. Dieser Lern-Laden ist voller Obst, Gemüse, Fisch und Fleisch aus Holz und mit kleinen Einkaufswagen. Hier sollen Kinder lernen, wie man einkauft und rechnet. 

Ludwig Erhard Zentrum
Wurst und Schinken, Fisch und Fleisch - alles aus Holz und als Spielzeugwaren im Kinder-Supermakt ausgestellt.Bild: DW/T. Rooks

Ein deutscher Exportschlager?

Aber auch Erwachsene können im LEZ etwas lernen. Gerade hat das Zentrum ein einwöchiges Sommer-Camp veranstaltet. Hier haben sich 24 Teilnehmer aus 16 verschiedenen Ländern, hauptsächlich aus Lateinamerika, getroffen, um mehr über Deutschlands einzigartige wirtschaftliche Gepflogenheiten zu erfahren.

"In dieser Woche haben die Teilnehmer vieles von dem kennengelernt, was Deutschland ausmacht und Deutschland als Wirtschaftsfaktor und als Land attraktiv macht: Das sind die Familienunternehmen, das ist das duale Ausbildungssystem, aber auch das föderale System Deutschlands", so Kurz, die hinzufügt, dass das Programm weitergeführt wird.

Und langsam, so Kurz, rücke das Wirtschaftsmuseum im verschlafenen Fürth in den international Fokus: "Der chinesische Botschafter hat sich viel Zeit genommen, war bei der Einweihung dabei und auch am Vorabend bei der Führung mit den Ehrengästen. Dabei hat er uns erzählt, warum Erhard in China so bekannt ist. Es war unter Deng Xiaoping, der sich nach dem Tod Maos Gedanken machte, wie er das Land wirtschaftlich verändert, um die Armut zu bekämpfen. Dabei hat Deng Xiaoping den Blick auf das nach dem zweiten Weltkrieg völlig zerstörte Deutschland gerichtet und dabei den 'Vater des deutschen Wirtschaftswunders' Ludwig Erhard kennen gelernt."

Das Zentrum ist nicht nur der Vergangenheit verpflichtet, sondern soll auch zu einem wirtschaftlichen Forschungszentrum in Zusammenarbeit mit einem nicht-universitären Forschungsinstitut und der Uni Erlangen-Nürnberg entwickelt werden. Zunächst soll es acht Arbeitsplätze für Ökonomen bieten und eng mit externen Forschern zusammenarbeiten.

So soll auf lange Sicht mehr aus der großen weiten Welt in diese kleine fränkische Stadt fließen. Es soll über die epochalen wirtschaftlichen Ideen eines Mannes geforscht und reflektiert werden, der hier zum Ende des 19. Jahrhunderts als Sohn eines lokalen Textilhändlers geboren wurde.

Timothy Rooks, Deutsche Welle
Timothy Rooks ist Reporter und Redakteur in Berlin.