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Glaube

Nachtgebet

10. Juni 2023

Wenn Gott am Abend auf eine Zitronenlimonade vorbeikommen würde: ein Dämmerungsgespräch am offenen Fenster über das Leben, Hoffnung und Trost.

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Bild: WKorczewski/Pond5/IMAGO

Wenn du heute Abend vorbeikommen würdest, Gott, dann würden wir uns am offenen Fenster auf die Fensterbank setzen und uns eine Zitronenlimonade teilen. Wir würden hinaussehen, während es im Zimmer hinter uns allmählich dunkel würde, und den Geräuschen von draußen zuhören, und du würdest mich fragen, wie mein Tag war. Dann würde ich dir von dem toten Vogel am Rand vom Fahrradweg erzählen, von der Wildblumenwiese an einer Bauminsel, eine unerwartete Pracht, vom Gespräch mit der neuen Kollegin und davon, dass wir eine richtig gute Teamsitzung hatten. Dann würde ich still werden und du würdest mich von der Seite ansehen, und vielleicht würde ich dir dann erzählen, wie schwer mir das Herz ist, weil ich einen Freundschaftskummer habe, und von meiner Angst auch, und du würdest mir wortlos ein Taschentuch rüberreichen. Und nach einer Weile würdest du mir vielleicht etwas erzählen davon, wie du die Welt ins Dasein gerufen hast, wie du Farben und Licht entstehen ließest, und Töne, und wie sehr du dich gefreut hattest, zum ersten Mal Menschen singen zu hören. Deine Stimme wäre tröstlich, und das Herz würde mir etwas leichter, und meine Traurigkeit würde sich mischen mit dem Wissen, dass du da bist, dass du nicht aufhören wirst, da zu sein, dass ich in deiner Nähe nichts erklären muss und dass es guttut, wenn du mich ansiehst. Dann würden wir schweigen, und nach einer Weile würde ich zu einer Frage ansetzen, und du würdest leicht den Kopf schütteln.

Wenn du heute Abend vorbeikommen würdest, Gott, dann würden wir den Stimmen der Leute unten auf der Straße zuhören, und würde ich dir alle Namen sagen von Menschen, von deren Ängsten und Traurigkeiten ich weiß, und du würdest mir davon erzählen, wie das Leben in der Tiefsee pulsiert und wie viele Kleinsttierchen in einer Handvoll Erde zu finden sind, und ich würde dich fragen, wie du das aushältst, all dieses Leben in dir zu halten, und ob dir das nicht manchmal schwer ist. Ach Herzchen, würdest du sagen, und ich würde uns noch eine Zitronenlimonade holen, und dann würde ich dir erzählen, wie oft ich meinen Kindern „Der Mond ist aufgegangen“ vorgesungen habe, und du würdest sagen, dass du das noch gut weißt.

Wenn du heute Abend vorbeikommen würdest, Gott, dann würde ich mir wünschen, dass es so bleiben möge, und du würdest sagen, ob ich nicht bald schlafen gehen würde, und dass der Morgen neues Licht und neue Gedanken bringen wird. Ich würde dich fragen, ob du noch eine Weile dableibst, und du würdest sagen, natürlich, und wir würden die Limonade austrinken, und in den Himmel schauen, bis der Abend mich frösteln lässt und ich das Fenster schließen würde.

Wenn du heute Abend vorbeikommen würdest, Gott, dann würde ich dir sagen, dass ich froh bin, dass du da warst, und du würdest lächeln und mir eine gute Nacht wünschen, und ich würde an all die vielen Menschen denken, die in dieser Nacht sterben werden, und mich deinem Morgen überlassen. Und ich würde später einschlafen mit einer Ahnung von deiner Weite um mich herum, und auch wenn ich mich nicht mehr an meine Träumer erinnern könnte, hinge noch eine Erinnerung an den Abend in der Luft, wenn das Licht ins Fenster scheint und ich mich daranmache, den neuen Tag in mein Leben zu lassen.

Und es wäre mir ein Trost, dass der Morgen dir ebenso gehört wie der Abend, und dass du dann wieder auf mich warten wirst.

 

Autorin Dr. Annette Jantzen
Bild: Ute Haupts

Dr. Annette Jantzen, geboren 1978, studierte katholische Theologie in Bonn, Jerusalem, Tübingen und Straßburg. Sie ist Frauenseelsorgerin im Bistum Aachen.