Offenes Rennen zwischen Erdogan und Opposition
14. Mai 2023Bei der Präsidentschaftswahl in der Türkei zeichnet sich noch kein klares Bild ab zwischen Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan und seinem Herausforderer Kemal Kilicdaroglu. Es könnte aber auf eine Stichwahl in zwei Wochen hinauslaufen. Laut staatlichen Medien führt Erdogan vor seinem Rivalen von der oppositionellen CHP mit mehreren Prozentpunkten. So berichtet die staatliche Agentur Anadolu mit Verweis darauf, dass über 89 Prozent der Wahlurnen zur Auszählung geöffnet wurden, dass für Erdogan knapp unter 50 Prozent votierten. Auf Kilicdaroglu entfielen demnach rund 44 Prozent. Erdogan würde damit absolute Mehrheit verfehlen und müsste in die Stichwahl.
Auch die Zahlen der der Opposition nahestehenden Nachrichtenagentur ANKA deuten darauf hin. Demnach sind mittlerweile rund 95 Prozent der Wahlurnen zur Auszählung geöffnet und Erdogan kommt auf gut 49 Prozent vor Kilicdaroglu mit gut 45 Prozent.
Im Laufe des Abends hatte die CHP sogar behauptet, dass Kilicdaroglu vor dem Präsidenten liege. "Unsere Zahlen zeichnen ein positives Bild", sagte ein Sprecher. "Wir liegen vorne", schrieb Kilicdaroglu via Twitter. Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoglu (CHP) kritisierte angebliche taktische Manöver bei der Stimmauszählung. In Hochburgen der Opposition lege die islamisch-konservative AKP bewusst Einspruch gegen die Ergebnisse ein. Dadurch werde die Auszählung langsamer gemacht, und das Ergebnis falle zunächst zugunsten der Regierung aus.
Erdogan meldete sich am Abend via Twitter zu Wort und bezeichnete die Äußerungen der Opposition während der laufenden Auszählung als "Raub des nationalen Willens": Kilicdaroglu sprach angesichts der offiziellen Zahlen von einer "Fiktion". Er wie auch Erdogan rief die Wahlbeobachter auf, die Auszählung bis zum Ende zu beaufsichtigen. "Wir werden heute Nacht nicht schlafen", schrieb Kilicdaroglu auf Twitter.
Journalisten beobachteten am Abend Freudenfeiern von Anhängern Erdogans vor der Zentrale seiner Partei AKP in Ankara. Vor der Zentrale der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP versammelten sich Anhänger von Kilicdaroglu und riefen Slogans.
Berichte über Wahlmanipulationen
Die Wahl lief nach einer ersten Einschätzung der zuständigen Behörde ohne Probleme ab. Oppositionspolitiker meldeten lediglich kleinere Zwischenfälle aus verschiedenen Provinzen. Einer Kurdenorganisation zufolge gab es "viele Wahlmanipulationen in kleinerem Umfang". So sei vielerorts gemeldet worden, dass Wahlzettel bereits gestempelt gewesen seien, als sie verteilt wurden, erklärte das Kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, Civaka Azad, mit Sitz in Berlin. Auch ungültige Zettel wurden demnach verteilt. Zudem wurden angeblich mehrere Tausend Menschen am Wählen gehindert, indem sie ohne ihr Wissen als Wahlhelfer benannt wurden oder weil ihnen kein Stimmzettel ausgehändigt wurde, da ihre Namen angeblich nicht auf den Listen standen.
Die hohe Präsenz von Militär und Polizei - insbesondere in mehrheitlich kurdischen Provinzen - sei sehr auffällig gewesen und habe nach Angaben von Wahlbeobachtern zu einer starken Einschüchterung der Gesellschaft beigetragen, erklärte Civaka Azad weiter. Bilder und Videos von kleineren gewaltsamen Zusammenstößen in Wahllokalen, meist ausgehend von AKP-Anhängern, wurden demnach im Internet verbreitet. Zusammengefasst seien die "Schicksalswahlen" bisher aber deutlich friedlicher abgelaufen als befürchtet, hieß es weiter.
Großes Interesse an der Wahl
Die Partei von Erdogan-Herausforderer Kilicdaroglu geht von einer Rekordbeteiligung bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen aus. Das sagte die Istanbuler CHP-Vorsitzende Canan Kaftancioglu nach Schließung der Wahllokale. Ähnlich äußerte sich auch der Chef der Wahlbehörde YSK, Ahmet Yener. Vor den Wahllokalen hatten sich zum Teil lange Schlangen gebildet. Bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2018 hatten 86,2 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben.
Insgesamt rund 64 Millionen Menschen im In- und Ausland waren zur Stimmabgabe aufgerufen. Der Wahlkampf war angespannt und galt als unfair, vor allem wegen der medialen Übermacht der Regierung. Bestimmendes Thema war die schlechte wirtschaftliche Lage mit einer massiven Inflation. Erdogan versprach unter anderem eine Anhebung von Beamtengehältern und weitere Investitionen in die Rüstungsindustrie. Er führte eine aggressive Kampagne und beschimpfte die Opposition als "Terroristen".
Ein beliebter Oppositionspolitiker war nur eine Woche vor der Wahl mit Steinen beworfen worden. Kilicdaroglu trug am Freitag bei einem Auftritt in der Erdogan-Hochburg Samsun eine kugelsichere Weste. Kilicdaroglu gilt als besonnener Politiker. Er stammt aus der osttürkischen Provinz Tunceli und gehört der religiösen Minderheit der Aleviten an. Der Oppositionsführer will die Unabhängigkeit der Justiz und von Institutionen wie der Zentralbank wiederherstellen, die hohe Inflation in den Griff bekommen und das von Erdogan eingeführte Präsidialsystem abschaffen. Er steht für eine Wiederannäherung an Deutschland und die EU, aber auch für eine schärfere Migrationspolitik.
cwo/sti/wa/ack (afp, dpa, rtr)