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Glaube

Der gründliche Nachbar

10. Januar 2025

"Prüft alles und behaltet das Gute!" - so heißt die biblische Jahreslosung für 2025. Aber wie weiß ich im Vorhinein, was sich als gut herausstellen wird? Ein Beitrag der evangelischen Kirche.

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Zwei Männer beim Schnee-Schippen
Die beiden Männer entsprechen nicht den im Text erwähnten,Bild: Michael Reichel/ZB/dpa/picture alliance

"Gesundes Neues!", wünsche ich. Seit dem Jahreswechsel sehe ich meinen Nachbarn zum ersten Mal wieder (Hinweis der Redaktion: Die beiden Männer im Foto sind nicht die im Text Erwähnten). Wir stehen beide mit Schneeschiebern vor unseren Häusern. Am Tag zuvor hat es so viel geschneit, dass der Weg vor dem Haus geräumt werden muss.

"Hast du denn schon Pläne für das kommende Jahr?", fragt er mich. "Was genau meinst du?" - "Na weißt du schon, wo du Urlaub machen willst? Hast du schon das Restaurant für deinen Geburtstag reserviert? Und willst du dir nicht wieder ein Auto kaufen?" Ganz schön viel auf einmal, denke ich. Nichts davon habe ich schon festgelegt. Ich weiß doch nicht, wie es kommen wird.

"Ich habe da auf jeden Fall vorgesorgt", sagt er. "Im Urlaub fahren wir wieder nach Kroatien. Das ist gebucht. Außerdem will mein Sohn im September heiraten. Das will ordentlich vorbereitet sein. Bis dahin haben wir auch ein passendes Auto. Ein geräumiges mit Schiebedach - damit es auch für das Brautpaar passt."

Ich bin fasziniert, wie sorgfältig er plant. Dagegen wirke ich ziemlich unvorbereitet. Andererseits mag ich es, nicht alles im Voraus festzulegen, sondern möchte offen bleiben für das, was kommt. Ich denke an die biblische Jahreslosung für 2025: "Prüft alles und behaltet das Gute." Wie viel Planung ist gut und wie viel Spontaneität ist angemessen?

Nichts ist so sicher wie die Veränderung

Wir sind immer noch mit dem Schnee beschäftigt. Ich gebe es auf, den festgetretenen Schnee mit dem Schneeschieber vom Gehsteig zu kratzen. Ich streue etwas Splitt darüber. Der lässt den Schnee abstumpfen. Der Nachbar kratzt und klopft weiter, bis er die Steine des Plattenweges freigelegt hat. "So kannst du das doch nicht lassen!", sagt er zu mir. "Schau, so muss das aussehen!" Er zeigt auf den offenen Steinboden.

Er hat seine Methode, ich meine. Ich belasse es dabei, verabschiede mich und gehe in mein Haus. Ich will noch laufen. Der Wind bläst mir den Schnee direkt ins Gesicht, als ich starte. Auf halber Strecke drehe ich um. So habe ich wenigstens den Wind im Rücken. Die Schneeflocken gehen in Nieselregen über. Das wird Glatteis geben, denke ich und wische mir über den gefrorenen Bart.

Auf den Wegen im Ort, wo die kalten Steine frei liegen, hat sich sofort Eis gebildet. Spiegelglatt, unberechenbar. Ich suche meinen Weg in den Schneehaufen neben den Fußwegen oder Autos. Im Schneematsch läuft es sich sicherer als auf der Eisfläche über den "sauberen" Steinen. Vorsichtig, manchmal tastend, erreiche ich den Weg vor meinem Haus. Der Splitt tut dort, was er soll.

Was soll daran gut sein?

Doch was ist beim Nachbarn los? Vor seinem Haus steht ein Rettungswagen mit Blaulicht. Die Tür wird gerade zugeschlagen. Der Sanitäter fährt davon. Ich hangele mich am Zaun entlang bis zur Haustür des Nachbarn. Im Eingang steht seine Mutter. "Was ist denn passiert?", frage ich sie.

"Ach, es ist schlimm! Die Schwiegertochter wollte mich nach Hause fahren und ist auf dem Blitzeis ausgerutscht. Es war doch so gut geräumt. Jetzt ist sie gestürzt und hat sich möglicherweise den Oberschenkel gebrochen oder gar die Hüfte. Das wäre ein arges Pech. Die zwei hatten sich doch für das nächste Jahr so viel vorgenommen."

Natürlich wünsche ich meiner Nachbarin, dass sie keinen größeren Schaden genommen hat, damit sie mit ihrem Mann nicht alles neu bedenken muss, was sie für das kommende Jahr geplant haben. Ich denke nochmal an die biblische Jahreslosung: "Prüft alles und behaltet das Gute." Oft ist es nicht einfach, im Vorhinein zu sehen, was das Gute ist. Mein Nachbar war überzeugt, dass er das Gute tut, indem er den Weg vor seinem Haus vollständig freiräumt. Das Blitzeis hat ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Vielleicht ist das Gute das, worauf es in diesem Moment ankommt. Es ist gut, dass die Familie zusammenhält, dass mein Nachbar mit seiner Frau ins Krankenhaus gefahren ist und alle sie unterstützen, damit sie wieder auf die Beine kommt. Was aus ihren Plänen wird, wird sich später zeigen.

Dieser Beitrag wird redaktionell von den christlichen Kirchen verantwortet.

Gerhard Richter I Autor - Spurensuche Kirchenseite
Gerhard Richter (Jahrgang 1957) war bis 2019 Referent für die Partnerbeziehungen nach Tansania im Missionswerk in Leipzig. Geboren und aufgewachsen ist er in Weimar in einem atheistischen Elternhaus. Als gelernter Tiefbauer studierte er zunächst Bauingenieurwesen und wechselte dann zum Studium der evangelischen Theologie an die Universität in Jena. Stationen als Pfarrer waren Kerspleben bei Erfurt, Weimar, Tansania, Bibra und Leipzig. Heute ist er im Ruhestand und wohnt im Thüringer Schiefergebirge bei Saalfeld.Bild: privat