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Todesopfer rechter Gewalt

Andrea Grunau/Carla Bleiker19. April 2014

Der Entschluss fiel nach dem NSU-Schock: Die Polizei überprüft Tötungsdelikte mit 849 Opfern auf rechtsextreme Motive. Die offizielle Statistik nennt 63 Tote, doch der Hass von rechts hat wohl weit mehr Menschen getötet.

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Besucher in der Wanderausstellung über Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland seit 1990 (Foto: DW)
Bild: DW/A. Grunau

7. Oktober 2003: Der Rechtsanwalt Hartmut Nickel und seine Tochter Alja werden von einem Mann mit Pumpgun überfallen. Am Kragen trägt der Angreifer Runen der nationalsozialistischen SS. Er nennt sich später "engagiertes Mitglied der Nazi-Szene". Dem Anwalt und seiner Tochter schießt er in den Kopf. Schon an der Eingangstür hatte der Täter die Ehefrau getötet. Den dreifachen Mord rühmt er auf einem Flugblatt als Beginn der "Befreiung des Reichsgebietes".

19. Dezember 2003: Der 15-jährige Viktor Filimonov will mit seinen Freunden Waldemar und Aleksander in die Diskothek. Draußen sticht ihnen ein 17-jähriger Skinhead bei einem Streit ein langes Messer ins Herz. Die drei Jungen sterben. Als russische Spätaussiedler waren sie mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen. Vor Gericht erkennt die Staatsanwaltschaft einen "rechtsextremen Hintergrund" der Tat, die Richter nicht.

Porträts von drei getöteten Jugendlichen in der Wander-Ausstellunng über Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland seit 1990 (Foto: DW)
Fotos der getöteten Jugendlichen in der Wander-Ausstellung über Todesopfer rechter Gewalt seit 1990Bild: DW/A. Grunau

Beide Täter wurden gefasst und verurteilt, doch die sechs Toten stehen nicht in der offiziellen Statistik mit 63 Todesopfern rechtsextremer Gewalt seit der deutschen Einheit 1990. Man kann die Fälle nachlesen auf der Liste "152 Schicksale", die Journalisten um Frank Jansen im Berliner "Tagesspiegel" und in der Wochenzeitung "Die Zeit" veröffentlicht haben. Eine Wander-Ausstellung dokumentiert 169 Todesopfer, die Amadeu Antonio Stiftung nennt sogar 184. Doch auch die offizielle Statistik könnte bald ergänzt werden.

Nach dem NSU-Schock soll Blick nach Rechts geschärft werden

Als im November 2011 die Mordserie des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) mit zehn Toten aufflog und viele Versäumnisse der Strafverfolger zeigte, beschlossen die deutschen Innenminister, im Rahmen des "Gemeinsamen Abwehrzentrums gegen Rechtsextremismus" Altfälle von 1990 bis 2011 auf rechte Motive zu überprüfen. Nach einer Vorauswahl unter mehr als 3300 Fällen untersuchen das Bundeskriminalamt (BKA) und die Polizeibehörden neben ungeklärten versuchten und vollendeten Tötungsdelikten auch abgeschlossene Fälle von der sogenannten Jansen-Liste auf ein rechtes Tatmotiv.

Insgesamt geht es jetzt noch um 849 Opfer. Sowohl das BKA als auch das Landeskriminalamt in Nordrhein-Westfalen betonen aber auf Anfrage, dass noch gar nichts darüber zu sagen sei, wie viele neu bewertet werden müssten. Man untersuche jeden Fall, in dem "ein rechtsextremes Tatmotiv nicht vollständig ausgeschlossen werden konnte".

Neues aufzudecken, wenn die Tat sehr lange zurückliegt, sei nicht einfach, sagt die innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion in Hamburg, Christiane Schneider. Teile mancher Akten sind schon vernichtet. Eine Chance auf neue Erkenntnisse sieht sie trotzdem: Auch bei den NSU-Morden seien z.B. Hinweise auf einen fremdenfeindlichen Hintergrund nicht verfolgt worden. Schneider hofft, dass durch die Überprüfung Polizeibehörden "sehr viel stärker sensibilisiert sind, auch bei aktuellen Delikten den möglichen rechten Hintergrund nicht außer Acht zu lassen".

Besonders viele Obdachlose nicht auf offizieller Opfer-Liste

Für das Erkennen rechter Tat-Motive wurden Kriterien entwickelt, die sich an Opfern und Tatorten orientieren. Neu untersucht wird dann, wenn es Hinweise gibt, dass sich die Tat gegen Menschen richtete wegen ihrer Herkunft oder Hautfarbe, ihrer Religion, Weltanschauung, politischen Einstellung oder sexuellen Orientierung, ihrer Behinderung oder ihres gesellschaftlichen Status. Unter den Opfern, die bisher nicht in der offiziellen Statistik stehen, sind auffällig viele Obdachlose und andere Menschen am Rand der Gesellschaft.

1. Juli 1992: Der 50-jährige Emil Wendland lebt im brandenburgischen Neuruppin. Der frühere Lehrer gilt als alkoholkrank. An diesem Juliabend schläft er im Rosengarten auf einer Bank. Drei Skinheads haben sich zum "Penner klatschen" verabredet, stellt man später vor Gericht fest. Sie finden den Schlafenden, schlagen ihm eine Flasche auf den Kopf, prügeln, treten und töten ihn mit mehreren Messerstichen. Emil Wendland war für sie ein "Mensch zweiter Klasse", heißt es vor Gericht.

Gedenktafel, die in Neuruppin für den getöteten Emil Wendland errrichtet wurde (Foto: Hanskarl Book)
Am Tatort erinnert heute eine Gedenktafel an Emil WendlandBild: Hanskarl Book

Brandenburg beauftragt Wissenschaftler mit Überprüfung

Nicht nur die Polizei, auch der Potsdamer Politikwissenschaftler Christoph Kopke überprüft diese Tat, ebenso wie gut 30 weitere Fälle. Das ostdeutsche Bundesland Brandenburg - auf der Jansen-Liste das Land mit den meisten Todesopfern - hat als einziges Bundesland externe Wissenschaftler beauftragt, umstrittene Altfälle zu untersuchen. Christoph Kopke leitet das Forschungsprojekt beim Moses-Mendelssohn-Zentrum der Universität Potsdam.

Über Einzelfälle will Kopke erst nach Projekt-Abschluss im Mai 2015 sprechen, aber er geht davon aus, dass es in Brandenburg neben den neun Toten in der offiziellen Statistik weitere Opfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt gegeben hat, wie sie z.B. auch der Verein "Opferperspektive" nennt. Davon geht auch Ministerpräsident Dietmar Woidke aus, der den Wissenschaftlern zusicherte, alle Archive von Polizei und Justiz zu öffnen.

Die Diskrepanz zwischen der staatlichen Zählung und der von Opferinitiativen oder Journalisten habe auch mit Definitionen zu tun, erklärt Politikwissenschaftler Kopke. Bis 2001 zählte die Polizei als politisch motiviert nur Taten, die sich direkt gegen Staat und Wirtschaftsordnung richteten. Gewalt gegen typische Opfer von Rechtsextremen fielen meist durchs Raster, obwohl es nach der deutschen Einheit viele fremdenfeindliche Brandanschläge und Gewalttaten von rechts gab. Doch erst ab 2001 galten erweiterte Kriterien für "Politisch motivierte Kriminalität (PMK) -rechts-".

Verantwortung der "Wegschauenden und Weghörenden"

Natürlich hänge viel davon ab, wie gut ausgebildet und sensibilisiert die Ermittler für rechtsextreme Motive sind, sagt Kopke. Die NSU-Untersuchungen hätten Defizite gezeigt. Er befürchtet, dass auch Opfer rechter Gewalt unterhalb der Tötungsdelikte nicht ernst genug genommen wurden. Die Einstufung der Taten als rechtsextrem, erklärt der Wissenschaftler, scheitere teils auch am Urteil der Richter. Einerseits falle es ihnen wohl manchmal schwer, Angeklagten mit "kruden Ideen"ein politisches Motiv zuzubilligen. Zudem sei es grundsätzlich einfacher, ein revisionsfestes Urteil wegen einer Gewalttat wie Totschlag zu fällen, als Tätern einen niederen Beweggrund wie Rassismus als Mordmotiv nachzuweisen.

Doch Kopke warnt davor, die Verantwortung nur bei Polizisten und Juristen zu suchen. Beim Aktenstudium sei die Reaktion der Zuschauenden und Zuhörenden oft besonders schwer zu ertragen, berichtet der Wissenschaftler: "Oder besser der Wegschauenden und Weghörenden. Äußerungen wie: 'Ich habe dann das Fenster zugemacht'. Oder auf die Frage: 'Warum haben Sie nicht die Polizei gerufen?' 'Ich wollte da nicht reingezogen werden'." Es gebe Fälle, berichtet Kopke, "wo über Stunden Menschen zu Tode geprügelt wurden und es mehrere Zeugen gibt, die sich raus gezogen haben, Tür zugemacht, Rolläden runter gelassen. Hier ist die Empathielosigkeit der Umgebung fast noch schlimmer als die Tat."

Porträt Christoph Kopke, Politikwissenschaftler am Moses-Mendelssohn-Zentrum der Universität Potsdam
Der Politikwissenschaftler Christoph Kopke berichtet über Zeugen tödlicher Gewalt, die einfach wegschautenBild: Karla Fritze/Moses-Mendelssohn-Zentrum

"Gewalt wurde vollständig unterschätzt"

Am Ende der Überprüfungen durch die Polizei könnten Rechtsanwalt Nickel mit seiner Familie, Viktor und seine Freunde vor der Disco wie auch der ehemalige Lehrer Emil Wendland offiziell als Opfer rechter Gewalt anerkannt werden. Die Hamburger Linken-Politikerin Christiane Schneider findet die Nachermittlungen sehr wichtig, "weil wir wissen, dass die Naziszene bis weit in die 2000er Jahre hinein extrem militant und gewalttätig war. Diese Gewalt wurde vollständig unterschätzt von den Behörden und von der Öffentlichkeit".

Wenn die Tötungsdelikte überprüft sind, sollen andere Taten folgen: ungeklärte Brand- und Sprengstoffdelikte etwa oder die Bildung terroristischer Vereinigungen. Christiane Schneider begrüßt das sehr: "Die Menschen, die das begangen haben, leben ja noch mitten unter uns."