"Neue Regierung muss ungleiche Verteilung beenden"
18. Dezember 2013DW: Herr Wetzel, Deutschland hat eine neue Regierung, eine große Koalition aus CDU und SPD, aus Konservativen und Sozialdemokraten. Ist das für einen Gewerkschafter wie Sie Anlass zur Freude?
Detlef Wetzel: Grundsätzlich könnte es uns ja egal sein. Für uns ist ja wichtig, welche Themen sich die große Koalition vorgenommen hat. Was will die neue Regierung anpacken? Und da glaube ich, gibt es zumindest einige Punkte, die für uns sehr interessant sind und wo wir annehmen, dass sie in die richtige Richtung gehen.
Finden Sie die Themen, die Sie sich wünschen?
Einige schon. Wir sind sehr froh, dass das Thema Missbrauch von Leiharbeit angepackt wird, dass die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen erhöhen werden soll. Ich finde es auch gut, dass es eine abschlagsfreie Rente mit 63 Jahren gibt für die, die 45 Jahre Versicherungszeiten haben. Und wir finden es auch gut, dass die Erwerbsminderungsrente verbessert wird. Also es gibt schon gute Aspekte. Es gibt natürlich auch einige Punkte, die uns nicht gefallen. Wir hätten uns gewünscht, dass mehr in Bildung investiert wird. Dass mehr in Infrastruktur investiert wird. Und dass insgesamt vielleicht ein bisschen mehr Bewegung in die Gesellschaft kommt. Aber alles in allem, denke ich, sind auch gute Punkte dabei. Wir sind sehr hoffnungsfroh, dass die neue Regierung die Dinge auch entschlossen anpackt.
Also ein Paket von sozialen Maßnahmen, das auch kosten wird, und zwar nicht unerhebliche Summen. Die Wirtschaftsverbände laufen schon Sturm und sagen, das seien Rückschritte, Deutschland drohe der Reformstillstand. Was halten Sie dem entgegen?
Das ist, ehrlich gesagt, grober Unfug. Die Bundesregierung versucht, Verwerfungen, die sich in den letzten Jahren ergeben haben auf dem Arbeitsmarkt - Befristung, Leiharbeit, Werkverträge, Missbrauch von arbeitsmarktpolitischen Instrumenten - ein bisschen abzuschwächen und Missbrauch zu verhindern. Und beim Thema Rente kann ich nur sagen: Lebensleistung muss sich lohnen. Ich bin sehr erschrocken, wie gerade Konservative die Lebensleistung von Älteren so ignorieren. Wer jahrelang eingezahlt hat, sein ganzes Leben lang eingezahlt hat in die Rentenversicherung, der muss doch wohl auch mit 63 abschlagsfrei in Rente gehen können.
Das Argument ist ja immer, dass man es sich nicht mehr leisten kann. Kann sich Deutschland das leisten?
Also wenn sich eines der reichsten Länder der Welt nicht leisten kann, für seine Rentnerinnen und Rentner ein bisschen was auszugeben, wenn das reichste Land der Welt nicht in der Lage ist, den Missbrauch von Leiharbeit, von Werkverträgen und von Niedriglohn zu begrenzen - dann weiß ich es nicht. Nein, wir haben in Deutschland eine grundsätzliche Frage, dass die Wohlstandsgewinne sehr ungleich verteilt worden sind in den letzten zehn Jahren. Es wird Zeit, dass wir hier wieder zurückdrehen Richtung Arbeitnehmer.
Nun sagen ja einige: Nur so konnte Deutschland wettbewerbsfähig sein oder erst werden.
Aber das ist ja der Trugschluss. Wenn man sieht, dass gerade die exportorientierten Branchen - also Metall, Elektro, Chemie - die im internationalen Wettbewerb stehen, diejenigen Branchen sind, die die höchsten Löhne zahlen, sieht man, dass dieses Argument sehr interessensgeleitet ist. Die Branchen, die im Binnenmarkt nur auf deutsche Konkurrenz treffen, die haben die schlechten Löhne und die exportorientierten Branchen die im Wettbewerb stehen, haben die hohen Löhne. Im Grunde genommen ist es umgekehrt: Deutsche Produkte werden im Ausland ja nicht gekauft, weil sie am billigsten sind, sondern weil sie am besten sind. Deutsche Autos sind nicht die billigsten, sondern die besten. Die Maschinen sind nicht die billigsten, sie sind die besten. Es ist das Erfolgsmodell von Deutschland, bessere und nicht billige Produkte zu schaffen.
Ein flächendeckender Mindestlohn soll jetzt eingeführt werden. Warum ist das notwendig?
Ich habe es ja eben gesagt. Ungefähr ein Viertel aller Beschäftigten arbeitet im Niedriglohnsektor. Und für diesen Beschäftigungsbereich geht die Spirale der Löhne und Gehälter immer weiter nach unten. Und dieser Mindestlohn mit 8,50 Euro sorgt ja nicht dafür, dass man in Saus und Braus leben kann, sondern der Mindestlohn sorgt nur dafür, dass diese Spirale nach unten, das Lohndumping der niedrigen Löhne gestoppt wird bei 8,50. Wir als Gewerkschaften müssen dann sehen, dass die Lohnentwicklung über 8,50 Euro weiter geht. Denn wenn wir den Mindestlohn von 8,50 Euro haben, wird man merken, dass man da auch nicht ganz hervorragend von leben kann.
Werkverträge, das heißt, es gibt Arbeitnehmer erster und zweiter Klasse. Können Sie das vielleicht mal erklären…
Vielleicht auch dritter Klasse. Wir haben ja nichts gegen Werkverträge, wenn ein Dach undicht ist und ein Dachdecker geholt wird. Wir kritisieren Werkverträge, wenn diese Werkverträge genutzt werden, vorher gut bezahlte Arbeit von anderen Menschen erbringen zu lassen, die jetzt nur schlechter bezahlt werden.
Nun sagen aber die Unternehmen, sie können sich das nicht leisten. Sie müssten eine gewisse Flexibilität haben und können nicht alle diesen hohen Kosten bezahlen. Was entgegnen Sie denen?
Denen entgegne ich, dass es schlicht und einfach falsch ist. Die deutsche Automobilindustrie ist die erfolgreichste Industrie auf der ganzen Welt. Und sie werden ja nicht deswegen so erfolgreich, weil sie die billigsten Autos haben, sondern weil sie die besten Autos haben. Die Automobilindustrie macht exorbitante Gewinne. Der Maschinenbau macht exorbitante Gewinne. Und Deutschland kann sehr wohl alle Menschen ordentlich bezahlen, weil unser Erfolgsmodell ist, nicht billige Produkte zu exportieren sondern gute Produkte zu exportieren. Und deswegen kann sich die deutsche Industrie gleiche Arbeit, gleiches Geld tatsächlich leisten. Sie wollen es aber nicht, weil sie noch mehr Gewinne machen wollen als bisher und da versuchen wir natürlich als IG Metall entsprechend gegenzuhalten.
Die meisten Autos verkauft die deutsche Automobilindustrie aber außerhalb Deutschlands. Warum sollten nicht deutsche Autos oder Autos von Volkswagen sagen wir mal, zum Beispiel in China produziert werden, was ja schon geschieht, um Lohnkosten zu sparen?
Das wird ja auch gemacht. Wir haben als IG Metall auch gar nichts dagegen, wenn die Industrie den Märkten folgt. Das ist eine völlig normale Entwicklung, da bleibt immer genug für Deutschland übrig an Produktionsstätten, an Forschung und Entwicklung, an Organisation dieser ganzen Prozesse. Das geht uns nicht gegen den Strich. Wir sind nur dagegen, wenn "outgesourced" wird, um Kosten zu sparen. Nach China wird nicht verlagert, um Kosten zu sparen. Sondern die Verlagerungen, die stattfinden und die wir kritisieren, in Form von Werkverträgen, die finden in Deutschland statt. Dort wird nicht nach China oder nach Osteuropa ausgelagert, sondern es wird ausgelagert in eine andere Firma, die auf dem Werksgelände arbeitet, die gleiche Tätigkeiten verrichtet, aber die Menschen 40, 50 Prozent schlechter bezahlt. Das ist das, was wir kritisieren.
Deflef Wetzel wurde 1952 in Siegen geboren. Der gelernte Werkzeugmacher, Sohn eines Hufschmiedes und einer Fabrikarbeiterin, erwarb auf dem zweiten Bildungsweg die Fachhochschulreife und studierte Sozialarbeit an der Fachhochschule seiner Heimatstadt. Wetzel, SPD-Mitglied und entschiedener Gegner der Agenda 2010 von Bundeskanzler Gerhard Schröder, ist seit dem 25. November 2013 Vorsitzender der IG-Metall, der weltweit größten Arbeitnehmervertretung.
Das Interview führte Manuela Kasper-Claridge.