Schalke-Fans: Suche nach Nazi-Opfern und -Tätern
11. November 2021"Wir haben immer geglaubt, dass der nächste Tag nicht mehr für uns da ist", sagt Rolf Abrahamson und erinnert mit diesen Worten an die grausamen Tage der Deportation durch die Nazis - von Gelsenkirchen in verschiedene Arbeits- und Konzentrationslager. Damals war Abrahamson 16 Jahre alt, er überlebte die Deportation nur knapp. Der heute 96-Jährige ist nicht selbst vor Ort in der Neuen Synagoge in der Gelsenkirchener Innenstadt. Die Stimme wird elektronisch in den Saal übertragen. Die Intensität seiner Worte mindert das nicht.
Dass der Zeitzeuge Abrahamson überhaupt in diesem Rahmen und an diesem Tag Anfang November in der Synagoge gehört werden kann, ist der intensiven Arbeit einer besonderen Projektgruppe zu verdanken. Fans des FC Schalke 04, Mitarbeiter des Schalker Fanprojekts und des Klubs haben sich in Kooperation mit Historikern des Instituts für Stadtgeschichte Gelsenkirchen (ISG) sowie der jüdischen Gemeinde in den vergangenen Monaten auf die Suche nach Spuren der größten Deportation von Gelsenkirchener Juden Anfang 1942 gemacht. Dabei wurden viele Schicksale aufgearbeitet. Damit steht die Projektgruppe ganz in der Tradition des Klubs FC Schalke 04, der als erster Bundesligist 1994 den Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung in seine Satzung aufgenommen hatte.
Ein Ort, an dem man sich festhalten kann
Im Zentrum der Recherchen steht der Wildenbruchplatz: ein ehemals belebter, zentraler Ort der Stadt, von wo aus 350 Juden aus Gelsenkirchen und 150 aus anderen Städten des Ruhrgebiets am 27. Januar 1942 nach Riga deportiert wurden. Dorthin, wo das Morden der Nazis schon unmittelbar nach der Ankunft begann - nachdem die Menschen, in einer Halle hinter Stacheldraht und auf Stroh zusammengepfercht, in der eiskalten Nacht bei minus 27 Grad auf ihren Abtransport warten mussten.
"Es ist manchmal schwierig, einen Einstieg in dieses Thema zu finden. Wir haben hier aber einen Ort, an dem man sich konkret festhalten kann", sagt Jannik Rituper. Der 25 Jahre alte Schalke-Anhänger arbeitet - wie viele seiner Mitstreiter - seit einem halben Jahr wöchentlich mindestens sechs Stunden intensiv im Projekt mit und führte das Zeitzeugen-Interview mit Abrahamson. "Ich bin wahnsinnig zufrieden mit dem Ergebnis. Wir sind auf Fragen gestoßen, die bislang nie gestellt wurden", sagt Rituper.
Rund 25 Mitglieder hat die Projektgruppe, die sich nach einer vom Schalker Fan-Projekt organisierten, äußerst bewegenden Fahrt ins ehemalige Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau im Jahr 2018 spontan zusammengefunden hatte.
Opfer- und Tätergeschichten
Die Recherchen der Gruppe in vielen Archiven von Stadt, Land und Bund hat viele Schicksale von Juden aus Gelsenkirchen und den umliegenden Städten ans Licht gebracht und den schrecklichen Geschichten Namen gegeben. Wie den der Jüdin Helene Lewek, die sich kurz vor der Deportation selbst das Leben nahm. Der Wildenbruchplatz in Gelsenkirchen steht dabei nur als Symbol für so viele Orte in Deutschland und Europa, an denen der menschenverachtende Nazi-Terror wütete.
Aber auch einige Tätergeschichten hat die intensive Recherche offenbart: Wie die des Hauptsturmführers und Gestapo-Außendienststellenleiters Robert Schlüter und dessen Ausflüchte, Verleugnungen und Abwiegelungen nach dem Krieg. Und wie ein Gericht den grausamen Täter und skrupellosen Karrieristen freisprach.
Schalke-Anhängerin Natalie van den Meulenhof will mit ihrem Engagement "gegen das Vergessen" arbeiten. Die 30 Jahre alte Beamtin erhofft sich "durch die Aufklärungsarbeit, dass Antisemitismus eingedämmt und bekämpft werden kann". Auch Thomas Schaal, ein 52 Jahre alter Fußballtrainer aus Berlin, der für das Projekt häufig zwischen Gelsenkirchen und der Bundeshauptstadt pendelt, hat einen eindeutigen Beweggrund für sein Engagement: "Ich wollte etwas gegen Diskriminierung unternehmen. Es gibt einen Rechtsruck in unserer Gesellschaft, gegen den wir etwas unternehmen müssen", sagt der langjährige Schalke-Anhänger. "Wir müssen dem Antisemitismus entgegenstehen."
Antisemitismus nimmt wieder zu
Die Erinnerung an die Terror-Zeit der Nationalsozialisten müsse wachgehalten werden, sagt Judith Neuwald-Tasbach. Die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen hat 24 Familienmitglieder in Riga verloren, einzig ihr Vater und ihr Onkel überlebten die Deportation. "Die Situation rund um den Antisemitismus ist wieder sehr schlimm geworden. Es gibt schon wieder viele kleine Schneebälle, die man aber noch zertreten kann", sagt Neuwald-Tasbach. Umso bedeutender sei diese spezielle Arbeit der Schalke-Fans.
Am 27. Januar 2022, genau 80 Jahre nach der Deportation der Juden vom Wildenbruchplatz, wird die Projektgruppe an dem Ort eine Gedenktafel aufstellen. Aber damit, so sind sich alle Beteiligten einig, ist die Aufklärungsarbeit noch lange nicht getan. Sie muss und sie wird weitergehen.