Wie politisch ist der ESC?
15. April 2018Der Eurovision Song Contest steht vor der Tür. Längst sind die Teilnehmer und ihre Startplätze klar, viele von ihnen touren zurzeit durch europäische Städte und testen ihre Songs beim internationalen Publikum. Während sich die Künstler auf den ESC vorbereiten, der ein fröhliches, grenzenloses und unpolitisches Spektakel werden soll, spitzt sich die politische Weltlage zu. Kann ein internationaler Musikwettbewerb vor so einem Hintergrund eigentlich politikfrei sein?
Im vergangenen Jahr etwa - der ESC fand in Kiew statt - gab es heftige Diskussionen um das Einreiseverbot der russischen Sängerin Julia Samoylova in die Ukraine. Russland zog damals seinen Beitrag zurück, schickt die Sängerin dafür in diesem Jahr nach Lissabon.
2016 hatte die ukrainische Sängerin Jamala mit einem Song über die Vertreibung der Krimtataren unter stalinistischer Herrschaft gewonnen. Fast wäre sie nicht beim ESC zugelassen worden. Sie konnte die ESC-Verantwortlichen schließlich mit dem Argument überzeugen, dass es hier um ihre persönliche Familiengeschichte ging.
Selbst der deutsche Siegertitel aus dem Jahr 1982 - "Ein bisschen Frieden" von Nicole war eine zarte politische Botschaft während der atomaren Aufrüstung zwischen der Sowjetunion und den USA in den 80er Jahren. Dieser Schlager könnte in diesen Tagen kaum aktueller sein. Ganz ohne Politik geht es also nicht? DW-Redakteur Andreas Brenner hat darüber und über die Chancen des deutschen Teilnehmers Michael Schulte mit dem Programmverantwortlichen des deutschen Beitrags, Thomas Schreiber, gesprochen.
DW: In den letzten Jahren gab es um dem Eurovision Song Contest sehr viele politische Diskussionen. Wird es dieses Jahr in Lissabon nur um Musik gehen und nicht um die Politik?
Thomas Schreiber: Das ist in diesen Zeiten ganz schwer zu beurteilen. Meine Hoffnung ist, dass es um die Musik gehen wird, um die Künstler, um die Songs. Aber wir wissen nicht, was bis dahin noch passieren wird. Sie sehen ja, was weltpolitisch im Moment los ist. Aber ich glaube, die Auseinandersetzung der vergangenen Jahre, die wir hatten, die wird es nicht geben, und ich setze darauf, dass der Eurovision Song Contest in Lissabon ein musikalischer Wettbewerb wird und kein politischer.
Inwieweit haben die politischen Diskussionen der vergangenen Jahre - das Einreiseverbot der russischen Sängerin in die Ukraine im vergangenen Jahr etwa - dem Wettbewerb denn geschadet?
Ich glaube nicht, dass sie dem ESC und dem Wettbewerb als solchem geschadet haben. Aber sie sind ein Aspekt, und sie zeigen im Endeffekt, wie lebendig der Eurovision Song Contest ist, weil er für so viele unterschiedliche Menschen, für so viele Interessen eine Projektionsfläche ist. Wenn es nur politische Diskussionen gäbe, dann würde das den Wettbewerb töten. Wenn es immer mal wieder so etwas gibt - das kann ja auch aus unterschiedlichsten Richtungen kommen - dann ist es, glaube ich, eher der Ausdruck von Relevanz, von Bedeutung dieses Wettbewerbs oder der Bedeutung, die diesem Wettbewerb zumindest zugesprochen wird. Ob der ESC diese Relevanz dann wirklich hat, oder ob es doch "nur" eine Unterhaltungssendung im Fernsehen ist - wenn auch ein großes Ereignis - steht auf einem anderen Blatt.
Da wir gerade über Diskussionen sprechen: Es gab sehr viele davon in Deutschland über die Misserfolge deutscher Teilnehmer. Sie haben in diesem Jahr einen sehr aufwendigen nationalen Vorentscheid mitorganisiert. War das notwendig? Der Sieg von Michael Schulte war doch deutlich?
Das ist ja erfreulich, dass er so deutlich war. Aber das war ja nicht vorhersehbar. Im deutschen Vorentscheid gab es drei Gruppen, die entschieden haben. Wir hatten 20 internationale Juroren, wir hatten 100 Menschen, die für den Geschmack der europäischen Zuschauer standen, und wir hatten das deutsche Fernsehpublikum. Alle drei Jurys haben sich für Michael Schulte entschieden. Das finde ich erstmal sehr erfreulich, weil es sehr eindeutig war, und weil es gezeigt hat, dass sowohl die Menschen dieses Landes, die an dem Abend zugeschaut und angerufen haben, als auch internationale Experten sich so eindeutig für diesen sehr authentischen Künstler mit diesem sehr persönlichen Lied entschieden haben. Das ist aus meiner Sicht ein sehr positives Zeichen - und unsere internationale Jury war wirklich sehr hochrangig besetzt, mit sehr guten Juroren aus anderen Ländern und teilweise mit Künstlern, die selber erfolgreich beim ESC teilgenommen haben.
Aber nach dem deutschen Vorentscheid ist sozusagen vor dem internationalen Finale. Jetzt geht es darum, eine Inszenierung zu finden, die den Künstler und das Lied unterstützt und diese Erfahrung, die er beim Vorentscheid gemacht hat, auf die internationale Bühne transportiert. Das heißt, dass man versteht: Da ist ein Mensch, der ein sehr guter Musiker ist, der ein sehr guter Sänger ist, aber über eine sehr persönliche Erfahrung spricht - den Tod seines Vaters. Für die Fernsehzuschauer und für die Jury-Mitglieder wird es darum gehen, sich diese Erfahrung zu eigen zu machen.
Was - außer dass er der erste Mann seit 2012 ist - unterscheidet Michael Schulte qualitativ von den Teilnehmerinnen der letzten Jahre, die nicht so erfolgreich waren?
Der Weg, auf dem Michael Schulte gefunden wurde. Und ich hoffe, dass er ein bisschen freier auftreten kann.
Das Jahr, in dem Andreas Kümmert seine Wahl beim Vorentscheid nicht angenommen hat, war ein Jahr, in dem internationale Kommentatoren diese Geschichte erzählt haben, das war sehr zum Schaden der deutschen Teilnehmerin [Anne-Spohie kam 2015 auf den letzten Platz, d.Red.]. Das Jahr, in dem Xavier Naidoo nicht angetreten ist, war ein Jahr, in dem mehr über ihn gesprochen wurde, und nicht über die deutsche Teilnehmerin Jamie Lee [Auch sie erreichte 2016 nur den letzten Platz, d.Red.].
Das haben wir, glaube ich, hinter uns gelassen. Wir haben mit dem diesjährigen Verfahren von Anfang an die internationale Sicht auf den deutschen Beitrag mit integriert - das sollte ihm helfen. Der Sieg in Deutschland ist das eine, er war sehr eindeutig. Und jetzt geht es darum, eine wirklich gute Platzierung in Portugal zu erreichen.
Welche wäre das? Mit welchem Ziel fahren sie nach Lissabon?
Wir fahren zum Eurovision Song Contest immer mit dem Ziel, einen Platz auf der linken Hälfte der Tafel [das heißt unter ersten 13, Anmerk.d.Red.] oder besser noch unter den Top 10 zu erreichen.
Das Gespräch führte DW-Redakteur Andreas Brenner