Theater nach dem Mauerfall
2. November 2009
Du bist zehn, und die Lehrerin schlägt dir mit dem Lineal auf die Finger. Du bist zehn und musst jede Woche einen Friedensbrief schreiben. Du bist zehn und kannst in drei Minuten eine Kalaschnikow auseinandernehmen und zusammenbauen. Du weißt, wie man in 0,01 Sekunden eine Gasmaske aufsetzt. Und wie man eine Atemmaske aus Gaze macht.
Demokratie als Missverständnis
Du bist zehn und, so könnte man die Anklage der moldawischen Dramatikerin Nicoleta Esinencu fortsetzen, du lebst in einem autoritären Staat, in dem sich nichts geändert hat seit dem Mauerfall, dem Ende der Diktatur. Ihr Stück "Antidot" (Gegenmittel) ist ein wütender Rundumschlag gegen staatliche Gewalt vor und nach dem Mauerfall, gegen die atomare Bedrohung und jenen Terror, der aus dem Kampf gegen den Terror erwächst. "Bei uns ist eigentlich alles wie früher, wir haben keine echte Demokratie", sagt sie. Manches sei sogar noch schlimmer geworden: "Früher war bei uns alles verboten. Jetzt denken die Leute, Demokratie heißt, wir können alles machen, wir können jemanden umbringen. Das ist eine sehr seltsame Interpretation von Demokratie. Und so ist es nicht nur in meinem Land, sondern in vielen ex-sowjetischen Ländern."
Geistige Verseuchung
Nicoleta Esinencu, die zornige junge Frau Jahrgang 1978, schlägt einen wilden und eigenwilligen Bogen vom Massenmord durch Gas in Auschwitz über die Atomkatastrophe von Tschernobyl bis zum Selbstmord am eigenen Gasherd. Das unsichtbare Gift wird zur Metapher der geistigen Verseuchung. "Es kann sein, dass du statt eines Gegenmittels eine Maske bekommst, deren Atemschlauch blockiert ist", heißt es in Esinencus Stück. Und als die Schauspieler Graffiti auf die Bühne sprühen, steigen dem Publikum beißende Dämpfe in die Atemwege, da rückt das Thema beklemmend nahe.
Mit dieser finster-furiosen Premiere startete am Wochenende das Theaterfestival "After the Fall" am Staatsschauspiel Dresden – ein prominenter Ort für die Dramatiker, von denen nur wenige wie der Pole Andrzej Stasiuk hierzulande einem größeren Publikum bekannt sind. 17 Autoren aus 15 Ländern hatte das Goethe-Institut gebeten, Stücke über die Folgen des Mauerfalls zu schreiben, sieben wurden nun zur Aufführung in Deutschland ausgewählt.
Eine Arbeit des ostdeutschen Dramatikers Dirk Laucke, Jahrgang 1982, gehört dazu. Auch er geht hart mit seinem Land ins Gericht: "Für alle reicht es nicht" heißt sein Stück, in dem er lauter Gestrandete ins Rennen schickt. Jo und Anna, die vom Zigarettenschmuggel leben, und den Ossi Heiner, der in der Ödnis nahe der tschechischen Grenze einen alten Panzer wiederhergerichtet hat und von militaristischen Zeiten träumt. Als ein LKW mit verschleppten asiatischen Flüchtlingen auftaucht, entbrennt Streit: Die "Fidschis", sagt Heiner im Neonazi-Jargon, sollen weg. Beim Wessi Jo keimt eine Spur Mitgefühl auf, aber am Ende lassen sie die Flüchtlinge in ihrem LKW umkommen. Die Gescheiterten der Wiedervereinigung, die sich selbst als Opfer erleben, haben noch Schwächere gefunden. Plakativ zugespitzt ist Lauckes Versuchsanordnung. Der Mauerfall habe vor allem "eine Menge in Richtung nationaler Scheiß" gebracht, sagt er: "Wiedererwachter Nationalstolz und der Wille, ein Deutscher zu sein, ist mehr und mehr nationaler Konsens".
Neue Angst vor dem Fremden
Die Idee zu dem grenzüberschreitenden Theaterprojekt kam ausgerechnet aus London ganz im Nordwesten Europas, wo Claudia Amthor-Croft, verantwortlich für die Goethe-Kulturprogramme der Region, eine künstlerische Umsetzung des Themas suchte. Gerade von westeuropäischen Autoren, sagt sie, seien unerwartete Beiträge gekommen: "Mich hat überrascht, dass sie ihren Zugang über Migration, Grenzenproblematik und Globalisierung suchen".
Der Mauerfall, so die klare Analyse, sorgt für Verwerfungen auch im Westen. Der Däne Christian Lollike, der mit einem Stück beim Theaterprojekt vertreten ist, erzählt etwa, man habe in seinem Land nach dem Mauerfall optimistisch an die "Eine Welt" geglaubt. "Aber dann sind alle möglichen Grenzen gefallen, wir haben auf einmal Angst bekommen und festgestellt, dass wir eine engstirnige Gesellschaft sind, die keine Impulse von außen haben will".
Im Westen gespielt, zu Hause ignoriert
Die sächsische Landeshauptstadt Dresden ist nicht der einzige Schauplatz des Festivals "After the Fall". Parallel sind die Produktionen bis zum kommenden Wochenende auch in der westdeutschen Stadt Mülheim an der Ruhr zu sehen, die sich als Ort für neue Dramatik und grenzüberschreitende Theaterprojekte profiliert hat. Außerdem werden alle Stücke in den Heimatländern der Dramatiker aufgeführt. Gut für die Autoren: Einige der beteiligten Bühnen haben nicht nur "ihre" Autoren aufgeführt, sondern planen nun auch Produktionen anderer Stücke, die im Zuge des Projekts entstanden sind. Martin Berg, Kurator von "After the Fall" beim Goethe-Institut: "Ich denke, alle haben jetzt gemerkt, dass sie sich international mehr vernetzen wollen. Das kann sehr nachhaltig wirken".
Bei Nicoleta Esinencu aus der Republik Moldau hat das schon gut funktioniert: Mit ihrem Stück "Antidot" ist sie nun auch nach Polen und Dänemark eingeladen. Ob das allerdings ihre Situation im eigenen Land verändert, ist noch die Frage. Kritische Stimmen wie ihre werden dort nicht gerne gehört. "Ich habe Kontakte zu Bühnen in Europa", sagt sie, "aber ich habe keine Kontakte zu Hause!"
Autorin: Aya Bach
Redaktion: Jochen Kürten