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Löst Sensationsfund am Mount Everest 100 Jahre altes Rätsel?

16. Oktober 2024

US-Bergsteiger haben am Fuße des Mount Everest auf der tibetischen Nordseite des Bergs Überreste des seit 1924 verschollenen Andrew Irvine gefunden. Gehörte er zu den ersten Menschen auf dem Gipfel des Berges?

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Der Schuh, den US-Bergsteiger zu Füßen des Mount Everest aus dem Eis baren
Diesen Schuh gab jetzt ein Gletscher unterhalb der Everest-Nordwand freiBild: Erich Roepke/National Geographic/PA/dpa/picture alliance

Waren die beiden britischen Bergsteiger George Mallory und Andrew Irvine bereits 1924 am Gipfel des Mount Everest - 29 Jahre vor der verbürgten Erstbesteigung des höchsten Bergs der Erde durch den Neuseeländer Edmund Hillary und den Nepalesen Tenzing Norgay? Diese Frage beschäftigt seit Jahrzehnten Bergsport-Interessierte in aller Welt. Zahlreiche Bücher sind darüber geschrieben worden.

Jetzt haben der US-Bergsteiger und Filmemacher Jimmy Chin und sein Team auf dem Zentralen Rongbuk-Gletscher unterhalb der Everest-Nordwand einen sehr alten Bergschuh gefunden - mit Überresten eines Fußes und einer Socke, auf dem ein Etikett mit der Aufschrift "A.C. Irvine" aufgenäht ist. "Ich glaube, der Gletscher hat ihn wirklich erst eine Woche, bevor wir ihn fanden, freigegeben", sagte Chin dem Magazin "National Geographic". Kann das Rätsel um Mallory und Irvine damit nach 100 Jahren gelöst werden? Wir beantworten die wichtigsten Fragen.

Was kann man zweifelsfrei über den Gipfelversuch vor 100 Jahren sagen?

Der 37 Jahre alte Mallory und der 22 Jahre alte Irvine gehörten 1924 zu einer britischen Expedition, die sich die Erstbesteigung des Mount Everest zum Ziel gesetzt hatte. Sie stiegen auf der tibetischen Nordseite des Bergs auf, weil Nepal zu jener Zeit noch für Ausländer gesperrt war.

Mallory und Irvine brachen am 6. Juni vom Nordsattel auf rund 7000 Metern zu ihrem Gipfelversuch auf, begleitet von einigen tibetischen Helfern. Am nächsten Tag erreichten sie ihr letztes Hochlager auf etwa 8200 Metern. Dort kehrten die letzten Tibeter um - und nahmen einen Notizzettel an den Expeditionskollegen Noel Odell mit, den Mallory geschrieben hatte: "Wahrscheinlich brechen wir morgen (am 8.) früh auf, um klares Wetter zu haben."

Andrew Irvine (2.v.l), Expeditionsleiter Edward Norton (3.v.l.) und George Mallory (3.v.r.) im Kreis von Expeditionskollegen von 1924
Andrew Irvine (2.v.l), Expeditionsleiter Edward Norton (3.v.l.) und George Mallory (3.v.r.) Bild: IMAGO/Gemini Collection

Mallory gab auch einen Hinweis, wo und wann in etwa Odell sie am nächsten Tag voraussichtlich erblicken könnte. Als die Wolkendecke am 8. Juni kurz aufriss, meinte Odell, an einer Felsstufe am Nordostgrat zwei sich bewegende Punkte zu sehen. Danach verlor sich die Spur der beiden. Mallory und Irvine blieben verschollen.

Haben die anderen Expeditionsmitglieder nach den beiden Vermissten gesucht?

Als jedes Lebenzeichen von Mallory und Irvine ausblieb, stieg Odell noch einmal zum letzten Hochlager und von dort noch ein Stück weiter auf, doch der heftige Sturm zwang ihn zur Umkehr. Die Vorboten des Monsuns machten eine weitere Suche unmöglich. Expeditionsleiter Edward Norton telegraphierte daraufhin an die Zeitung "The Times": "Mallory und Irvine beim letzten Versuch ums Leben gekommen."

Die tibetische Nordseite des Mount Everest
Die tibetische Nordseite des Mount EverestBild: picture alliance/dpa/XinHua

Norton war während der Expedition bis auf eine Höhe von 8570 Metern gelangt - im Gegensatz zu Mallory und Irvine ohne den Einsatz von Flaschensauerstoff. Ein Everest-Höhenrekord ohne Atemmaske, der erst 1978 gebrochen wurde, als Reinhold Messner und Peter Habeler den höchsten Punkt der Erde auf 8849 Metern erstmals ohne Flaschensauerstoff erreichten.

Welche Hinweise auf das Schicksal von Mallory und Irvine wurden später entdeckt?

1933 fanden Mitglieder einer weiteren britischen Everest-Expedition auf einer Höhe von 8460 Metern Irvines Eispickel. Einzelne Bergsteiger aus chinesischen Everest-Expeditionen von 1960 und 1975 sowie einer japanischen Expedition von 1995 berichteten, sie hätten bei ihren jeweiligen Aufstiegen eine sehr alte Leiche gesehen. Die Höhenangaben schwankten zwischen 8100 und 8500 Metern. Verifizieren ließen sich die Angaben nicht. 

Am 1. Mai 1999 fand der US-Bergsteiger Conrad Anker, Mitglied einer internationalen Suchexpedition, auf 8159 Metern, im Schutt eingefroren, zweifelsfrei die Leiche Mallorys. Mallorys Bein war gebrochen, schwere Kopfverletzungen waren zu sehen - offensichtlich Folgen eines Absturzes. Irvine blieb vermisst. Auch eine kleine Kodak-Kamera, mit der die beiden Bergsteiger ihren Aufstieg dokumentieren wollten, wurde nicht gefunden.

Gibt es Zweifel, dass der jetzt entdeckte Schuh wirklich Irvine gehörte?

Eigentlich nicht. Der Schuh war mit Stahlnägeln beschlagen, wie es 1924 unter Bergsteigern noch üblich war. Die heute verwendeten Steigeisen setzten sich erst deutlich später durch. Auch der brüchige Zustand des Leders passt durchaus zu einem 100 Jahre alten Schuh, der lange im Eis gelegen hat.

Die gefundene Socke mit dem Schriftzug "A.C. Irvine" liegt auf dem Eis
Der Aufnäher mit dem Schriftzug "A.C. Irvine" auf der im Eis gefundenen SockeBild: Jimmy Chin/National Geographic/PA/dpa/picture alliance

Der wichtigste Hinweis ist jedoch das Etikett mit der Aufschrift "A.C. Irvine". Der Bergsteiger hieß mit vollständigem Namen Andrew Comyn Irvine. Letzte Gewissheit kann ein DNA-Vergleich bringen. Nachfahren Irvines haben sich dazu bereiterklärt, DNA-Proben abzugeben, die mit den gefundenen Überresten des Fußes verglichen werden können.

Welche Schlüsse kann man aus dem Fund des Schuhs ziehen?

US-Bergsteiger Jimmy Chin mit dem gefunden Schuh auf dem Zentralen Rongbuk-Gletscher
US-Bergsteiger Jimmy Chin mit dem Sensationsfund Bild: Jimmy Chin/National Geographic/PA/dpa/picture alliance

Zunächst einmal nur den, dass Irvine wirklich am Mount Everest gestorben ist. "Die Gegenstände haben ihm gehört und enthalten einen Teil von ihm. Sie erzählen, was wahrscheinlich passiert ist", sagte Irvines Großnichte Julie Summers, die eine Biografie über den Bergsteiger geschrieben hat. "Für mich ist das eine Art von Abschluss." Irvines Eltern hatten noch Jahre nach dem Unglück nachts ihr Haus in Birkenhead nahe Liverpool offen und ein Licht eingeschaltet gelassen, weil sie hofften, dass Andrew doch noch eines Tages durch die Tür träte.

Der deutsche Alpinhistoriker und Bergsteiger Jochen Hemmleb war bei der Suchexpedition 1999 vor Ort am Everest und durch seine jahrelangen Recherchen maßgeblich daran beteiligt, dass Mallorys Leiche entdeckt wurde. Der jetzige Fund sei "bahnbrechend", so Hemmleb. Er warnte jedoch davor, voreilige Schlüsse zu ziehen. So gebe es mehrere Möglichkeiten, wie Irvines Leiche auf den Zentralen Rongbuk-Gletscher gelangt sei: "Er könnte von irgendwo auf dem Nordostgrat heruntergefallen sein. Er könnte von einer Lawine von irgendwo in der Nordwand hinuntergefegt worden sein. Oder sein Körper wurde vom Berg geworfen (so unangenehm dieser Gedanke auch ist)." 

Waren Mallory und Irvine nun am Gipfel oder nicht?

Das kann nach wie vor nicht beantwortet werden. Auch nach dem Fund des Schuhs bleibe ungeklärt, "ob Mallory und Irvine den Gipfel erreichten (die meisten halten dies für unwahrscheinlich) oder was mit ihnen geschah", sagt Hemmleb. "Eine Lösung des Rätsels sehe ich bisher noch nicht." Zumal die verschollene Kamera, die möglicherweise Aufschluss geben könnte, erneut nicht gefunden wurde. US-Bergsteiger Jake Norton, der wie Hemmleb bei der Suchexpedition 1999 dabei war, ist sich nach eigenen Worten jedoch "sicher, dass die Geschichte noch viel mehr zu bieten hat. Und sie wird zu gegebener Zeit erzählt werden."

Jimmy Chin möchte nicht näher darauf eingehen, wo genau er und seine Gefährten die Überreste Irvines gefunden haben - um nicht Trophäenjäger zu ermutigen, sich auf den Weg zum Fuße der Everest-Nordwand zu machen. Er sei zuversichtlich, dass sich weitere Artefakte und vielleicht sogar die Kamera in der Nähe befänden, sagte Chin: "Das schränkt das Suchgebiet sicherlich ein."

DW Kommentarbild Stefan Nestler
Stefan Nestler Redakteur und Reporter