Vergebung
16. September 2022Es kommt nicht oft vor, dass in der Politik vom Verzeihen gesprochen wird. Da ist im Gegenteil oft mehr von Schuldzuweisungen die Rede. Da werden Versäumnisse oder bestimmte Entscheidungen kritisiert. Natürlich ist die Auseinandersetzung über den richtigen Weg in gesellschaftlichen Fragen notwendig. Manchmal treten Verantwortliche auch zurück, weil ihnen Fehlverhalten nachgewiesen wurde, manche entschuldigen sich auch in diesem Zusammenhang. Vom Verzeihen ist aber nicht die Rede.
Verzeihen gehört offensichtlich in den Raum der persönlichen Beziehungen. Nur der, dem Unrecht getan wurde, kann verzeihen. Manchmal fällt es uns leicht zu verzeihen, weil die Verletzung nicht so schwer war und wir den anderen gernhaben. Dann wiederum fällt es uns gerade schwer, wie uns ein Mensch unseres Vertrauens verletzt hat. Manchmal fehlt uns vielleicht die Kraft – wir wollen das Schlimme einfach nur vergessen. Oder wir wollen den Anderen strafen, indem wir ihm nicht verzeihen. Wenn ich in die Bibel schaue, dann fällt auf, dass oft von Schuld und Verzeihen die Rede ist. Auf die Frage des Apostels Petrus, wie oft man verzeihen soll, etwa sieben Mal? Sagt Jesus: nicht sieben Mal, sondern siebenundsiebzig Mal, d.h. immer wieder. (vgl. Mt 18,22) Wer kann das?
Eine Begegnung bei einem Besuch im Krankenhaus hat mir einen Aspekt der Vergebung neu bewusst gemacht.
Als Kaplan hatte ich auch den Auftrag, die Kranken in der Klinik zu besuchen. Ich hatte dafür eine Liste, auf der die Namen standen. Ich kannte ja nicht alle persönlich. So sagte ich, als ich in ein Krankenzimmer kam: „Ich möchte gern Frau soundso besuchen“. Da sagten die Frauen, die im Zimmer waren: „Die ist vor 2 Tagen entlassen worden“. Darauf sagte ich: „Dann wünsche ich Ihnen auch gute Besserung, damit Sie auch bald entlassen werden“.
Da sagte eine der Frauen: „Wenn jetzt junge Mädchen da wären, dann würde der Kaplan bleiben. Bei uns alten Frauen geht er“. Da blieb ich natürlich. Und dann erzählte diese Frau, dass sie mit ihrer Schwester schon viele Jahre im Streit lebte. Sie redeten nicht mehr miteinander. Der Grund? Die Schwester hatte einen der letzten Wünsche der Mutter nicht respektiert. Die Mutter hatte sich gewünscht, ihren Ring mit ins Grab nehmen zu können. Aber die Schwester hat, als die Mutter gestorben war, den Ring an sich genommen. Das kann sie ihr nicht verzeihen. Seitdem ist der Kontakt abgebrochen. Die Frau hat ihre Mutter als eine gütige und gläubige Frau geschildert. Da wagte ich zu fragen: „Hätte denn die Mutter – nur theoretisch gefragt - ihrer eigenen Tochter das vergeben“? Die Frau dachte kurz nach und sagte dann: „Ich glaube schon“. Da antwortete ich: „Ja wenn die Mutter vergeben hätte …“ mehr sagte ich nicht. aber es war klar, was ich damit sagen wollte. Zum Schluss lud sie mich ein, sie einmal zu besuchen.
Bei diesem Besuch erzählte sie mir: „Ich habe mit meiner Schwester telefoniert. Und die sagte mir, wie sehr sie die ganze Zeit gelitten hat: einmal, dass sie den Ring an sich genommen hat und dass seitdem die Beziehung zwischen uns abgebrochen ist“. Dann sagte sie weiter: “ Als an diesem Abend mein Mann nach Hause kam, sagte er: Was ist denn mit dir los? Du bist ja heute ganz anders.“
Da wurde mir klar: Die Versöhnung hat sie verändert. Vergebung befreit auch den, der vergibt. Hätte man die Frau vor dem Krankenhausaufenthalt auf die Schwester angesprochen, dann hätte sie wahrscheinlich gesagt: Die ist für mich gestorben. Aber das stimmte nicht. Dass sie mit mir, einem fremden Menschen davon gesprochen hat, zeigt, wie sehr sie das Ganze immer noch beschäftigt hat. Die Vergebung hat sie befreit. Ohne Vergebung kommt man nicht los von dem Unrecht, das einem angetan wurde.
Allerdings kann Vergebung nicht eingefordert werden. Man kann nur darum bitten und muss dann warten. Echte Vergebung ist nur in Freiheit möglich. Aber man kann dieses Anliegen ins Gebet hineinnehmen.
Domkapitular Prof. Dr. Gerhard Stanke, geboren am 4. November 1945 in Thröm (Kreis Ratibor), hat nach dem Abitur im Jahr 1965 Philosophie und Theologie in Königstein, München und Fulda studiert. Am 4. April 1971 erhielt er die Priesterweihe in Fulda. Er promovierte im Fach Moraltheologie. Von 1980 bis 2002 war er Regens des Fuldaer Priesterseminars, von 1991 bis 2004 Professor für Moraltheologie an der Theologischen Fakultät Fulda. Ab 2003 war Stanke Personalreferent für Priester und Laien im pastoralen Dienst. Von Oktober 2008 bis Juni 2018 und im Jahr 2019 war Stanke Generalvikar des Bistums Fulda.