"...von einem Jahr zum andern"
28. Dezember 2024 Altlasten und Neuanfänge zum Jahreswechsel
Silvester 1652. Die protestantischen Gemeinden feiern den Jahreswechsel mit einem neuen Kirchenlied. Der Dreißigjährige Krieg ist erst vier Jahre vorbei. Die Schrecken haben tiefe Spuren hinterlassen. Es braucht jetzt überall Mut, Zuversicht und Tatkraft.
Der Pfarrer und Dichter Paul Gerhardt findet dafür die richtigen Worte mit dem Lied:
„Nun lasst uns gehen und treten/ mit Singen und mit Beten/ dem Herrn, der unserm Leben/ bis hierher Kraft gegeben.“
Bis heute wird Paul Gerhardts Lied in den Kirchen zum Jahreswechsel gesungen und um das Notwendige gebetet:
„Sei der Verlassnen Vater/ der Irrenden Berater/ der Unversorgten Gabe/ der Armen Gut und Habe.“
Neben materieller Sicherheit brauchen Menschen Vertrauen und Hilfe bei allem, was die Seelen quält:
„Hilf gnädig allen Kranken/ gib fröhliche Gedanken / den hochbetrübten Seelen / die sich mit Schwermut quälen.“
Ein Jahreswechsel fordert heraus, damals wie heute. Vor allem, wenn vergangene Schrecken die Gegenwart belasten und den Blick in die Zukunft einengen. Wie kann es gelingen, die dunklen Gefühle in Schach zu halten? Schrecken zu bannen und innere Ruhe zu bewahren?
Die Tage um den Jahreswechsel herum sind nicht nur Anlass für Rückblick und Vorausschau. Sie geben auch den Blick frei für unsere Kraftquellen. Paul Gerhardt dichtet:
„Denn wie von treuen Müttern/ in schweren Ungewittern/ die Kindlein her auf Erden/ mit Fleiß bewahret werden/ also auch und nicht minder/ lässt Gott uns, seine Kinder/ wenn Not und Trübsal blitzen/ in seinem Schoße sitzen.“
Gegenseitige Fürsorge in Gefahr und die Bereitschaft, den Schwächeren Schutz zu bieten, gehören zu unserer Trotzkraft. Denn alles, was unserem Tun Sinn verleiht, wo Liebe frei wird, stärkt das Ich. Das gilt übrigens für alle Menschen, die zu unserem Leben gehören, auch für unsere Toten.
Die Tage rund um den Jahreswechsel sind eine Zeit des Dazwischen, zwischen Ende und Anfang, zwischen Himmel und Erde, zwischen Traum und Wirklichkeit.
Auch Träume gehören zu unserer Trotzkraft, zu unserer Resilienz. Selbst Albträume können helfen, Schrecken zu identifizieren, sie einzuordnen. Vielleicht sogar die Schrecken zu entkräften.
So erging es Ruth. Sie war vier Jahre alt, als ihr jüdischer Großvater starb. Sie selbst hat kaum Erinnerungen an ihn und erfuhr erst später, dass der Großvater in Berlin während der Nazizeit untergetaucht war. Denn in ihrer christlich geprägten Familie wurde über die Schreckensjahre des Holocaust geschwiegen. Alte Familienbilder zeigen einen Mann mit verhärmtem Gesicht und einem Buckel. Das Zusammenleben nach dem Krieg war wohl nicht leicht.
Ruth war ein empfindsames Kind. Manchmal wunderte sie sich über sich selbst, wenn sie unvermittelt und scheinbar ohne Grund in Tränen ausbrach. So, als ob es gar nicht die eigenen Tränen wären. Sie konnte sich das nicht erklären, zweifelte an sich selbst. Das änderte sich erst, als sie später fast zufällig an einer Familienaufstellung teilnahm.
Sie wurde ausgewählt, um den Platz eines großelterlichen Familienmitglieds einzunehmen. Während der Aufstellung überkam sie plötzlich ein Bild: brennende Häuser, Fliegeralarm und ein Mann in den Straßen. Intuitiv erfasste sie: Das war Berlin am Ende des Zweiten Weltkriegs. Es war ihr eigener Großvater, der sich nicht in einen Bunker flüchten durfte, weil er Jude war.
Dieses Erlebnis war ein Wendepunkt in ihrem Leben. Sie wusste jetzt: Ihr Gefühl hatte sie nicht getäuscht. Sie war nicht verrückt, wenn sie unvermittelt weinen musste. Sie fühlte die Tränen des Großvaters.
Ruth begann, über das Leben des Großvaters und ihrer Familie nachzuforschen. Aber inzwischen waren alle Verwandten verstorben, die sie hätte befragen können. Trotzdem konnte sie - wie durch Zufall - einiges herausfinden: Der Großvater hatte einst ein Geschäft auf Usedom betrieben. Vor diesem Laden wurde er von der SA mit Knüppeln zusammengeschlagen. Daher rührte sein Buckel. Praktisch mittellos flüchtete er nach Berlin, wo christliche Verwandte lebten und ihn sonst niemand kannte. Er fand stille Helfer und Schutz in verschiedenen Verstecken. So überlebte er den Krieg.
Wiederum wie durch Zufall erfuhr Ruth von der Möglichkeit, die Geschichte ihres Großvaters zu dokumentieren in der Berliner Gedenkstätte für stille Helden. Dort ist seine Geschichte inzwischen festgehalten und jedem Interessierten zugänglich. Beim Lesen ahnt man das Leid, den Mut und den Überlebenswillen von Ruths Großvater, dem stillen Helden.
Nachdem dessen Geschichte in der Gedenkstätte veröffentlicht wurde, hat Ruth einen Traum. Sie sieht einen Mann, festlich gekleidet, mit Zylinder. Er ist groß, von schmaler Statur und geht aufrecht. Sie weiß: Das ist mein Großvater! Auch wenn dieser Mann in nichts der buckligen, verhärmten Gestalt auf den Familienbildern ähnelt. Er geht von ihr weg, schreitet frei aus. Dann dreht er sich um, blickt ihr direkt in die Augen, lächelt: „Gut gemacht!“
Diese Worte wird Ruth nicht vergessen. Sie weiß: Das Leid ihres Großvaters kann nicht ausgelöscht werden.
Aber es wird nicht mehr verschwiegen, sondern findet Anerkennung. Für Ruth hat sich damit etwas zum Guten gewendet, was den Blick in die Zukunft frei macht.
Ruth, ihr jüdischer Großvater und die Suche nach ihrer Familiengeschichte beeindrucken mich, ebenso Paul Gerhardts Trost durch Poesie und Musik. Daran möchte ich mich orientieren, wenn ich auf das Jahr 2024 zurückblicke. Krieg, Hunger, Vertreibung blieben mir erspart. Aber es gab Ereignisse, die mir zu schaffen machen oder wehgetan haben. Anerkennen können, was war, und den Blick frei bekommen für das, was kommt. Das ist der Segen, um den ich Gott bitte, wenn wir von einem Jahr zum andern gehen.
Zur Autorin:
Marianne Ludwig (Jg. 1958) war zuletzt Polizeiseelsorgerin bei der Landespolizei Berlin und beim Zoll in Berlin und Brandenburg. Seit April 2024 ist sie im Ruhestand, aber weiterhin als Traumatherapeutin, Supervisorin und Heilpraktikerin(Psych) tätig. Sie studierte evangelische Theologie, Judaistik und Erziehungswissenschaften in Berlin, Göttingen und Jerusalem. Sie wurde 1989 zur Pfarrerin ordiniert und arbeitete in der Spezialseelsorge (Evangelische Familienbildungsstätte, Kinderklinik, allgemeines Krankenhaus, Polizei).
Link zur Gedenkstätte: https://www.gedenkstaette-stille-helden.de/
Dieser Beitrag wird redaktionell von den christlichen Kirchen verantwortet.