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PolitikEuropa

Vor 80 Jahren: Auftakt zum Holocaust

25. Juli 2022

Im Juli 1942 begann die SS mit der Vernichtung der Warschauer Juden. Daran wird an diesem Freitag in Polen mit einem Gedenkmarsch erinnert.

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Bewacht von einem deutschen Soldaten stehen Bewohner des Warschauer Ghettos mit erhobenen Armen in einem Innenhof. Aufgenommen kurz vor ihrem Abtransport in das nationalsozialistische deutsche Vernichtungslager Treblinka (undatierte Aufnahme).
Mit erhobenen Armen warten Juden im Warschauer Ghetto auf ihren Abtransport nach TreblinkaBild: dpa/picture alliance

Das Leben der Juden in der polnischen Hauptstadt Warschau vor 80 Jahren war die Hölle. Seit dem deutschen Überfall auf Polen im September 1939 waren sie der ständigen Verfolgung durch die deutschen Besatzer ausgesetzt. Und seit November 1940 waren sie eingepfercht im Warschauer Ghetto im nordwestlichen Teil der Stadt. Bis zu 450.000 Männer, Frauen und Kinder lebten hier in drangvoller Enge hinter hohen Mauern. Sie wurden durch Hunger, Seuchen und Hinrichtungen dezimiert. Rund 100.000 Menschen verloren so ihr Leben.

Unerlaubtes Verlassen des abgeriegelten Bezirks stand unter Todesstrafe, genauso wie jede Hilfe von außen für die Ghettobewohner. Die Wachposten scheuten noch nicht einmal davor zurück, auf kleine Kinder zu schießen, die Lebensmittel oder Kohle ins Ghetto schmuggelten. Zum Alltagsbild gehörten bis auf die Knochen abgemagerte Leichen am Straßenrand.

SS-Mann Hermann Höfle gibt den Mordbefehl 

Der 22. Juli 1942 sollte zum tragischen Einschnitt in der Geschichte der Warschauer Juden werden, die vor dem Krieg knapp ein Drittel der Bevölkerung der polnischen Hauptstadt gestellt und durch viele Jahrhunderte das Bild der Stadt an der Weichsel stark geprägt hatten.

Altes Schwarz-Weiß-Foto, aufgenommen vermutlich im März 1943 zeigt Männer und Frauen in Winterjacken und mit Koffern und Gepäck, die im Ghetto Warschau ankommen. Bewaffnete deutsche Soldaten sind hinter ihnen zu sehen.
Warschauer Juden treffen im Ghetto ein, von wo sie ab Juli 1942 in die Vernichtungslager deportiert werdenBild: Reinhard Schultz/imago images

"Um 10 Uhr erschien Sturmbannführer Höfle mit Begleitern", notierte der Vorsitzende des von den Nazis eingesetzten Judenrates, Adam Czerniakow, in sein Tagebuch. "Man eröffnete uns, dass - mit gewissen Ausnahmen - die Juden ohne Unterschied des Geschlechts und des Alters in den Osten ausgesiedelt werden sollen." Der polnisch-jüdische Ingenieur und Politiker Czerniakow war von den Besatzern zwangsweise dazu bestimmt worden, als Chef des Judenrates ihre Befehle auszuführen: Täglich sollte er 6000 Menschen aus dem Ghetto zur Deportation bereitstellen. Bald erhöhte die SS das Tagessoll auf 10.000 Personen.

"Sie verlangen von mir, mit eigenen Händen die Kinder meines Volkes umzubringen", schrieb Czerniakow einen Tag nach dem Beginn der Deportationen, am 23.07.1942, im Abschiedsbrief an seine Frau. "Es bleibt mir nichts anderes übrig, als zu sterben." Mit einer Zyankalikapsel beendete er sein Leben. Die Vernichtungsaktion aber konnte er mit seinem Tod nicht stoppen.

Ziel der Reise - die Gaskammer von Treblinka

Die Deportation wurde mit größter Brutalität durchgeführt, um jeden Widerstand im Keim zu ersticken. Die einzelnen Häuser wurden vom jüdischen Ordnungsdienst und den deutschen Einheiten umstellt, ihre Einwohner mit Peitschen und Stöcken auf den Hof getrieben, in Kolonnen formiert und zum sogenannten Umschlagplatz am Bahnhof gebracht.

Altes Schwarz-Weiß-Foto, das Eisenbahnschienen zeigt, die in das Vernichtungslager Treblinka führten
Der Weg in den Tod: Diese Eisenbahnschienen führten direkt in das deutsche Vernichtungslager TreblinkaBild: picture alliance/dpa

An der dortigen Bahnrampe wurden die Menschen in Viehwaggons gepfercht und ins Vernichtungslager Treblinka gebracht, wo sie nach mehrstündiger Fahrt meistens noch am selben Tag in der Gaskammer starben. Später, als mehr Menschen versuchten, sich zu verstecken, lockte man die ausgehungerten Menschen mit dem Versprechen zusätzlicher Lebensmittelzuteilungen in die Falle: Bei freiwilliger Anmeldung bekam man pro Person drei Kilo Brot und ein Kilo Marmelade.

Die "Große Aktion" wurde von den Deutschen als "Umsiedlung nach Osten" getarnt, doch schon bald wurde vielen klar, dass am Ende der Reise der Tod auf sie wartete. Menschen, denen die Flucht aus den Zügen gelang, warnten ihre Mitbürger. Trotzdem sahen viele - aus Verzweiflung oder aus Verantwortung für ihre Angehörigen - keine Möglichkeit, dem Tod zu entkommen.

Janusz Korczak stirbt mit seinen Kindern

Anfang August erschien auch der Leiter des Waisenhauses, Janusz Korczak, mit seinen Schützlingen auf dem Umschlagplatz. Der angesehene Arzt und Pädagoge hatte die Möglichkeit, aus dem Ghetto zu fliehen, wollte aber die ihm anvertrauten Kinder nicht im Stich lassen. Um sie zu beruhigen, erzählte er ihnen, dass sie "aufs Land fahren" würden und begleitete sie in den Tod.

Historische Aufnahme des Pädagogen Janusz Korczak mit runder Brille und Vollbart. Er leitete das jüdische Waisenhaus in Warschau seit 1911 und wurde mit seinen Schützlingen in Treblinka ermordet.
Seit 1911 leitete Janusz Korczak das jüdische Waisenhaus in Warschau. Er wurde mit seinen Schützlingen in Treblinka ermordetBild: picture-alliance/dpa

Mit Korczak und den Waisenkindern starb auch seine Mitarbeiterin Stefania Wilczynska. Einen anderen Weg wählte die Kinderkrankenschwester Adina Blady-Szwajgier. Sie gab ihren jungen Patienten Morphium und tötete sie, bevor die Deutschen sie fassen konnten.

Innerhalb von zwei Monaten wurden nach deutschen Quellen mehr als 250.000 Juden nach Treblinka deportiert. Jüdische Quellen sprechen von fast 300.000 Opfern. Mehrere tausend transportunfähige Kranke und Alte wurden auf dem jüdischen Friedhof von Warschau erschossen. 

Das Foto zeigt Frauen und Kinder, die aus dem Ghetto Warschau deportiert werden, bewacht von bewaffneten SS-Leuten. Ein kleiner Junge im Vordergrund des Bildes hebt beide Arme. Die Originalunterschrift unter dem Bild lautete: "Mit Gewalt aus den Bunkern geholt"
"Mit Gewalt aus den Bunkern geholt", lautete die Originalbeschriftung unter dem Bild aus dem Warschauer Ghetto, vermutlich vom Mai 1943Bild: CAF/dpa/picture-alliance

Am Leben blieben ca. 35.000 Juden, die als Arbeitskräfte in Fabriken eingesetzt wurden. 20.000 bis 25.000 Menschen entkamen der Deportation und lebten illegal weiter im Restghetto. Als sie im April 1943 von dort deportiert werden sollten, begann der Aufstand im Warschauer Ghetto. 13.000 Juden wurden dabei getötet. Die übrigen wurden nach Treblinka und in andere Lager gebracht. "Das jüdische Warschau hat aufgehört zu existieren", hieß es in der Notiz eines Augenzeugen. Die größte jüdische Gemeinde Europas war vernichtet.

Der teuflische Plan Globocniks

Die Ermordung der Warschauer Juden war aber nur Teil eines Gesamtplans zur Vernichtung aller Juden im deutsch besetzten Polen, bekannt unter dem Tarnnamen "Aktion Reinhardt".

Bereits am 13. Oktober 1941 hatte Heinrich Himmler den SS- und Polizeiführer im Distrikt Lublin, Odilo Globocnik, beauftragt, die Juden in seinem Machtbereich im Süden des besetzten Landes zu ermorden. Dieser begann sofort mit dem Bau des ersten Vernichtungslagers - Belzec. Später entstanden noch zwei weitere Lager dieser Art, in denen die Opfer sofort nach der Ankunft vergast wurden - Sobibor und Treblinka. Ab 1943 diente auch Majdanek bei Lublin als Vernichtungsstätte.

Infografik - Deutsche Vernichtungslager auf dem Gebiet des heutigen Polens - DE

Globocnik rekrutierte für sein verbrecherisches Vorhaben Männer mit Erfahrung aus dem sogenannten Euthanasie-Programm. Im Rahmen der sogenannten "Aktion-T4" waren in Deutschland bis August 1941 rund 70.000 Patienten aus psychiatrischen Heilanstalten umgebracht worden, meistens mit Gas. Christian Wirth, zum Chef aller Lager der Aktion Reinhardt ernannt, war vorher Inspekteur sämtlicher Anstalten des Euthanasie-Programms gewesen.

In der Nacht vom 16. zum 17. März 1942 begann die Vernichtung der Juden in Lublin. Schritt um Schritt wurde die Mordaktion auf das ganze Gebiet des besetzten Polens ausgeweitet. Das Morden dauerte bis November 1943, als die Lager aufgelöst und die letzten Häftlinge erschossen wurden. Der Holocaust-Forscher Stephan Lehnstaedt schätzt die Gesamtzahl der Opfer der Aktion Reinhardt auf mindestens 1,8 Millionen, vielleicht sogar zwei Millionen. In seinem Buch "Der Kern des Holocaust" spricht der Historiker vom "bedeutendsten Tatkomplex des Holocaust". 

Die Vernichtung der europäischen Juden ging auch danach weiter. Insgesamt wurden sechs Millionen Juden ermordet, außerdem fielen Hunderttausende Sinti und Roma dem Völkermord zum Opfer.

Kaum Überlebende, vergessene Orte

Nur etwa 150 Personen überlebten Belzec, Sobibor und Treblinka. Die ehemaligen deutschen Vernichtungslager gerieten für lange Zeit fast in Vergessenheit. Zum Holocaust-Symbol wurde das Lager Auschwitz. Erst langsam rücken die Gedenkorte der Aktion Reinhardt wieder ins gesellschaftliche Bewusstsein.

Die Gedenkstätte in Warschau am ehemaligen Ghetto: Eine Wand mit der Aufschrift Umschlagplatz. Über dem Tor ein Relief mit Bäumen, im Hintergrund eine Wand mit hebräischer Aufschrift.Das Monument wurde am 18. April 1988, am Vorabend des 45. Jahrestages des Beginns des Aufstandes im Warschauer Ghetto errichtet. Es wurde von der Architektin Hanna Szmalenberg und dem Bildhauer Władysław Klamerus entworfen. Die Inschrift des Monuments ist in Hebräisch, Polnisch und Englisch verfasst:„Über diesen Pfad des Leidens und des Todes wurden zwischen 1942 und 1943 mehr als 300.000 Juden aus dem Warschauer Ghetto in die Gaskammern der Nazi-Vernichtungslager getrieben“ Die vierhundert häufigsten jüdisch-polnischen Vornamen von Aba bis Żanna sind in das Monument eingraviert.
Der Umschlagplatz am Warschauer Ghetto ist heute eine GedenkstätteBild: ZUMA Press/imago

Auch der seit Jahren stattfindende Gedenkmarsch in Warschau trägt zur Erneuerung der Erinnerung an dieses furchtbare Geschichtskapitel bei. Das Ghetto-Gelände in Warschau wurde von den Deutschen dem Erdboden gleich gemacht. Nach dem Krieg entstand dort eine neue Wohnsiedlung. In Polens Hauptstadt gibt es kaum noch Spuren der jüdischen Bevölkerung. Erst 1988 wurde am ehemaligen Umschlagplatz, an dem die Warschauer Juden zur Deportation versammelt wurden, eine Gedenkstätte errichtet.

Teilnehmer des Gedenkmarsches befestigen an Betonblöcken, die die ehemalige Ghetto-Mauer symbolisieren, bunte Bänder mit den Vornamen von Opfern
Teilnehmer an der Gedenkkundgebung hängen Bänder mit den Namen der Ermordeten aufBild: Jacek Lepiarz/DW

Am Freitag (22.07.2022), dem 80. Jahrestag des Beginns der Aktion Reinhardt, gedachten in Warschau mehrere Tausend Menschen der Ermordeten. Die Teilnehmer des Trauermarsches trugen bunte Bänder mit den Vornamen der Opfer, die sie an Betonblöcken befestigten, die die Ghettomauern symbolisierten. Die Ausstellung in der Nalewki-Straße, einer kleinen Gasse, die einst im Zentrum des jüdischen Viertels von Warschau lag, widmete sich dem Schicksal von jüdischen Familien, die aus kleineren Ortschaften im besetzten Polen und aus Deutschland ins Warschauer Ghetto umgesiedelt worden waren. Unter ihnen war auch ein Arzt aus Hannover, der mit seiner Frau und seinem einjährigen Kind im Frühjahr 1942 nach Warschau und von dort in ein Vernichtungslager verschleppt worden war. Sein Familienname war Bloch, seine Vorname ist unbekannt.

Porträt eines Mannes mit grauem Haar vor einem Regal mit Büchern
Jacek Lepiarz Journalist in der polnischen Redaktion mit Schwerpunkt auf deutsch-polnischen Themen.