Wie steht es um Russlands Wirtschaft wirklich?
7. September 2022Russlands Wirtschaft werde unter den beispiellosen Sanktionen westlicher Staaten bald kollabieren, hieß es noch vor wenigen Monaten. Doch in dieser Woche meldete das russische Statistikbüro Rosstat, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Landes sei in der ersten Jahreshälfte lediglich um 0,4 Prozent zurückgegangen.
Investment-Kapital sei reichlich vorhanden, der Rubel habe sich wieder erholt und die Inflation, die bei Kriegsbeginn steil angestiegen war, gehe wieder zurück - so offizielle Angaben. Ein hoher Regierungsbeamter sagte vor wenigen Tagen voraus, das BIP werde 2022 lediglich um drei Prozent niedriger ausfallen und nicht wie vorhergesagt um ein Drittel schrumpfen. Was geschieht aber nun wirklich?
Wie erwartet stützen die Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft - vor allem aus der Europäischen Union - weiterhin die Staatsfinanzen, obwohl Länder wie Deutschland oder Italien ihre Abhängigkeit von russischen Importen zu minimieren versuchen. Der staatliche Energieriese Gazprom hat gerade von einem Rekordergebnis im ersten Halbjahr berichtet: Zweieinhalb Billionen Rubel (41, 4 Milliarden Euro) haben den Aktienkurs um ein Drittel in die Höhe getrieben.
Die Wirtschaft leidet Mangel
"Auch wenn die russische Wirtschaft schlechter läuft als vor einem halben Jahr, reicht das nicht, damit Präsident Putin die Finanzierung des Ukraine-Krieges einstellen wird", sagt Maxim Mironow, Professor für Finanzwirtschaft an der IE Business School in Madrid zur DW.
Dabei gibt es keinen Zweifel, dass die westlichen Sanktionen richtig weh tun. Im vergangenen Monat hat eine Studie der Yale Universität gezeigt, dass die russischen Importe zusammengebrochen sind und viele Firmen große Schwierigkeiten haben, Komponenten einzukaufen, darunter Halbleiter und andere wichtige High-Tech-Produkte.
Der Export von Massenartikeln und Verbrauchsgütern ist unumkehrbar zusammengebrochen, so die Studie weiter. Gleichzeitig sei Moskau gezwungen, immer mehr Öl und Gas zu niedrigeren Preisen nach Asien zu verkaufen.
Zusammenbruch in zwei Jahren
Einer der Studienautoren, der Management-Professor Jeffrey Sonnenfeld, sagte kürzlich einem britischen Radiosender, die russische Wirtschaft könne nur noch "ungefähr zwei Jahre mit enormen Schwierigkeiten so weitermachen", wenn der Westen an seinen Sanktionen strikt festhalte.
Andere Ökonomen denken, dass ein wirtschaftlicher Zusammenbruch länger auf sich warten lassen wird. "Auf lange Sicht wird Russland nicht mehr sein als eine Tankstelle für China. Aber ich teile die Einschätzung nicht, dass das Land in zwei Jahren am Ende sein wird", so Rolf Langhammer, Handelsexperte und ehemaliger Vizepräsident des Kiel Instituts für Weltwirtschaft (IfW), im DW-Gespräch.
Er fügte hinzu, Russland habe über Jahre hinweg seine Kriegskasse gefüllt und sei nach Einschätzung internationaler Finanzexperten gut auf eine wirtschaftliche Entkopplung vom Westen vorbereitet.
"Der Internationale Währungsfonds (IWF) stellte schon im vergangenen Jahr fest, Russland habe seit dem Konflikt in der Ost-Ukraine und der Annexion der Krim 2014 Geld gehortet und sei für einen Zermürbungskrieg gut gerüstet."
Langhammer verweist auch darauf, dass Deutschland in den ersten sechs Monaten dieses Jahres 20 Milliarden Euro für Energieimporte nach Russland überwiesen hat, eine Steigerung um 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. "Auch wenn die Importmenge sinkt, werden wir Russland wegen der steigenden Preise ungefähr drei Milliarden Euro im Monat überweisen."
Putin schröpft seine Devisenreserven
Die Yale-Forscher haben festgehalten, wie Moskau seine Devisenreserven von mehr als 600 Milliarden Euro angezapft hat, die Putin als Sicherheitspuffer in den ersten Kriegsmonaten gedient haben. So seien bereits fast 81 Milliarden Euro in die Kriegskasse geflossen, während ungefähr die Hälfte des noch verbliebenen Geldes durch den Westen eingefroren worden sei
Alexander Michailow, Wirtschaftsprofessor an der britischen Universität in Reading, glaubt, Putins Kriegskasse würde sich schnell leeren, sollte der Westen seine Abhängigkeit von russischen Öl- und Gasexporten tatsächlich beenden. Andernfalls würde das erst in zwei oder drei Jahren geschehen.
Sollten Putin die Handlungsoptionen ausgehen, könnte Moskau dazu übergehen, einfach mehr Geld zu drucken, um die explodierenden Kriegskosten bezahlen zu können. Das aber, so Michailow, wäre verrückt, da es zu "einer ungeheuren Rubel-Entwertung, zu Hyperinflation und in der Folge zu sozialen Unruhen führen würde".
Russische Leidensfähigkeit
Ökonom Maxim Mironow sagt dagegen, die Russen hätten mehrfach harte Zeiten unter kommunistischer Herrschaft und in den 90er Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebt. Er warnt daher, die Möglichkeit zu überschätzten, dass sich das russische Volk gegen Wladimir Putin erhebt.
"Im Westen gibt es eine Inflation von zehn Prozent und die Menschen sind wirklich verängstigt und verlangen von ihren Politikern, etwas dagegen zu unternehmen. So funktioniert die russische Gesellschaft nicht. Putin hat noch genügend Spielraum, den allgemeinen Lebensstandard um 20 - 30 Prozent zu senken - ohne ein Risiko einzugehen, dass es dagegen nennenswerten Widerstand gibt."
Putin noch weiter isolieren
Viele Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika haben keine Sanktionen gegen Russland erlassen und profitieren teilweise vom westlichen Rückzug aus dem Handel mit Moskau. In den letzten Tagen mehrten sich zudem Berichte, China würde heimlich in Russland eingekauftes Gas zurück nach Europa exportieren.
Der Druck im Westen nimmt zu, eine weitere Sanktionsrunde einzuläuten. So könnten ausländische Firmen oder Organisationen vom internationalen Finanzsystem ausgeschlossen werden, wenn sie weiterhin mit Russland Geschäfte machen. Das Vorbild dafür sind die Maßnahmen, die die USA beim Boykott des Irans angewandt haben, um den Ölexporten und dem Nuklearprogramm des Irans zu begegnen.
"Indien, die Türkei und vor allem China ignorieren die westlichen Sanktionen", so Rolf Langhammer. "Ein Ende der chinesischen Unterstützung Putins als Resultat von weitergehenden Sanktionen würde deren Wirksamkeit mächtigen Rückenwind verschaffen".
Washington hat bereits zu erkennen gegeben, dass weitergehende Sanktionen eine Option seien, doch Beobachter warnen und mahnen zu Geduld: Würden jetzt weitere Maßnahmen eingeführt, könnte das die Nachfrage nach Öl und Gas weiter befeuern und deren Preis noch mehr in die Höhe treiben.
Dieser Beitrag wurde aus dem Englischen adaptiert.