Am Rand der Republik
5. Juni 2009Ein lauter Knall, Rauch steigt auf. Es stinkt nach Schwefel. Felix grinst. Der 14-Jährige steht auf der Hauptstraße der Kreisstadt Anklam und zündet Böller. "Ist ja sonst nichts los hier", sagt er. Er nestelt mit dem Feuerzeug zwischen seinen kurzen, schmutzigen Fingern mit den abgekauten Nägeln. Auf seinem linken Unterarm eine deutliche Narbe: Ein Hakenkreuz.
Er wollte seine Lehrerin ärgern, sagt er leise. Hat sich das Kreuz auf dem Jungenklo mit einem Bleistift in die Haut tätowiert. Warum? Felix winkt ab. Er schämt sich. Felix ist kein Nazi. Die verprügeln ihn, haben ihm die Nase gebrochen. Weil er nicht richtig gehen kann. Hinter ihm donnert ein tiefergelegter Golf mit ohrenbetäubender Musik über die Anklamer Hauptstraße. Felix zuckt zusammen. "Nazis", sagt er leise, "Nazi-Musik". Und verdeckt mit seiner Kinderhand das Hakenkreuz auf seinem Arm.
Tätowierte Finger
Vergilbte Tüllgardinen hinter Plattenbaufenstern. Kinder spielen vor einem Wohnblock. Verfallene Häuser, grauer Putz blättert ab. An jedem zweiten Haus ein Schild: Objekt zu verkaufen. Die Imbissbude vernagelt. Vor einem Internetcafé hocken zwei Gestalten mit Militär-Mütze und rühren mit Holzstäbchen in ihren Kaffeebechern. Ein Pärchen knutscht auf einer Parkbank. Sie streichelt mit tätowierten Fingern seine Glatze.
Auf der nächsten Parkbank sitzt eine Familie. Er trägt kurzgeschorene Haare und Bomberjacke, sie schaukelt den Kinderwagen mit dem Kleinen. "Ich geh nicht wählen", sagt sie und es klingt völlig selbstverständlich. "Ich hab noch nie gewählt. Wozu?" Arbeitslos sind sie beide.
"Die Menschen brauchen Arbeit", sagt Detlef Butzke. Er ist der amtierende Bürgermeister von Anklam. In Ostvorpommern sind fast 40 Prozent der Menschen arbeitslos oder Billiglohn-Jobber. Und Jobs gibt es nicht: Ostvorpommern ist geprägt von Landwirtschaft, Industrie ist selten. Investoren siedeln sich lieber 70 Kilometer weiter an - in Polen.
"Die Politiker haben uns vergessen"
"Schön ist hier gar nichts", sagt der junge Mann mit Leinenbeutel an der Ampel. Er will weg, in den Westen, so schnell wie möglich. Er ist gelernter Dreher, jetzt sitzt er zu Hause. "Die Politiker haben uns vergessen", sagt er. "Anklam ist ein hoffnungsloser Fall. Wir sind die Übriggebliebenen." Fast 7000 Einwohner hat Anklam seit der Wende verloren, von ursprünglich mehr als 20.000. Wer jung ist, flieht - oder wird zum Neonazi. Am Ampelmast pappt ein Aufkleber, schwarz-rot-weiß. "Hier haben wir das Sagen: NPD".
Demokratisch wählen?
Die Straßen von Anklam sind mit Wahlplakaten gepflastert. "Demokratisch wählen", fordern die Volksparteien. "Wählen gehen", die Jugendorganisationen und Gewerkschaften. "Wirf deine Stimme nicht weg", fordert auch die NPD. Nur 45 Prozent der Menschen haben in Mecklenburg-Vorpommern bei der letzten Kommunalwahl überhaupt gewählt. Auch bei der letzten Landtagswahl war die Wahlbeteiligung gering - und trotzdem für die NPD ein Erfolg. Sie zog mit sieben Prozent in den Schweriner Landtag ein. Auf die frustierten Wähler setzt die NPD auch in diesem Jahr: "Wehrt euch", heißt einer ihrer Slogans: "NPD wählen ist ein Signal."
Ein Mann geht vorbei, in zackigem Schritt, starrer Blick. Braunes Hemd, Uniformhose, schwarze Stiefel, stechende Augen in einem hageren Gesicht. Die Lippen presst er zusammen. Der Schnurrbart darüber lässt keinen Zweifel, wer sein Vorbild ist.
Kampf für die Demokratie
"Die Stimmung ist anders hier", sagt Heiko Pult. Er arbeitet beim Regionalzentrum für Demokratische Kultur in Anklam. Stolze 90 Kandidaten hat die NPD zu dieser Kommunalwahl in Mecklenburg-Vorpommern aufgestellt. Vor fünf Jahren waren es 15, zehn davon hatten Erfolg. "Jetzt versucht die NPD, ganz groß in die Stadtparlamente zu kommen", sagt Heiko Pult. "Die Rechtsextremen treten massiv auf."
Pult wohnt nicht in Anklam, ganz bewusst. "Aus Sicherheitsgründen", sagt er. Aus Sicherheitsgründen liegt sein Büro auch direkt in der Innenstadt von Anklam. Und Pult will sich nicht fotografieren lassen. "Noch haben die Rechtsextremen kein Bild von mir. Das soll auch erst mal so bleiben", sagt er.
Das Regionalzentrum macht Präventionsarbeit, versucht, die Menschen von Demokratie zu überzeugen. Das ist nicht einfach in der ärmsten Region Deutschlands: Hier haben viele Menschen den Glauben an die Demokratie verloren - oder hatten ihn nie.
"Die tun was"
Auf der Anklamer Hauptstraße schlurft ein Unternehmer in Jogginghosen vor sein Geschäft. Er ist Bestatter. "Wenigstens der Job ist sicher", sagt er. Ein Rechtsextremer sei er nicht. Und erzählt trotzdem, dass er die NPD wählt. "Weil die sich hier kümmern. Die tun wenigstens was."
Die Rechtsextremen sprechen die Menschen an, machen Jugendarbeit, bieten Freizeitprogramm und Jugendtreffs – gezielt dort, wo sich die Kommunen zurückgezogen haben. Der ländliche Raum ist besonders beliebt. In einigen Dörfern kam die NPD bei der letzten Wahl auf rund 35 Prozent.
Darauf baut die NPD auch diesmal: "NDP wirkt vor Ort", wirbt die rechte Partei - und spricht besonders die jungen Wähler an, ab 16. "Die Jugendlichen sind meist motiviert genug, wählen zu gehen - und frustriert genug, radikal zu wählen", sagt Pult. Besonders beliebt der Spruch: "Wenn ihr nicht spurt, wähle ich NPD".
"Ausländer raus"
Auf der Anklamer Hauptstraße ist die Stimmung eindeutig: "Die Ausländer verhauen unsere deutschen Opis", sagt die junge Frau mit der Schirmmütze. Ihre Mutter mit den fleckig rot-blond-gefärbten Haaren nickt eifrig. "Da krieg ick so einen Hals", schimpft die junge Frau und ihre Stimme wird lauter: "Da sag ick nur eins: Kopp kürzer und raus aus Deutschland mit denen. Da bin ick knallhart." Ihre Mutti nickt. Die NPD wirbt mit einem "Ausländerrückführungsprogramm". Ausländer gibt es in der Region fast keine.
Am Supermarkt steht Marco mit seinen Kameraden. Fester Händedruck, spontanes Du. Breites Kreuz unter der Bomberjacke, Stiernacken, Glatze, Ring im Ohr. "Wir sind hier halt ein bisschen nationaler", sagt er. "Wir sind stolz auf unsere Heimat, weißt du." Die anderen lachen wissend. Der kleine Junge im Kinderwagen quietscht vor Freude und zeigt auf seinen Vater. Der ist auch arbeitslos, hat kurzgeschorene Haare und ist stolz. "Die blauen Augen hat er vom Papa", sagt er.
Kleine Nazi-Jäger
Hinter der Bushaltestelle hocken Stefan und Philipp, zwei kleine Punks. Philipp ist 14 und hat im vergangenen Jahr drei Zähne verloren, am Bahnhof, als die Nazis ihn verprügelt haben. "Die waren zu dritt, doppelt so alt, dreimal so groß", sagt er. "Als ich am Boden gelegen habe, haben sie mit ihren Stiefeln auf mich eingetreten." Im Wartehäuschen der Bushaltestelle sitzt ein Glatzkopf und hält sich an seiner Bierflasche fest. "Die Faschos sind hier überall", sagt Stefan. "Nazi-Jäger" steht groß auf seinem Pulli. "Hier bist du entweder links oder rechts. Die Mitte gibt’s nicht."
Vor der Plattenbausiedlung steht noch immer Felix. Er zündet seinen letzten Böller. Nach der Schule will er nichts machen, rumhängen. "Machen doch alle so", sagt er und zuckt mit den Schultern. "Tschüss. Ihr könnt ja mal wieder nach Anklam kommen." Er dreht sich um und humpelt traurig davon. Eigentlich heißt "Felix": "Der Glückliche".
Autorin: Anna Kuhn-Osius
Redaktion: Dеnnis Stutе