Erbauung in Europas "Event Cities"
15. Dezember 2003"Das Allerschlimmste, was man als Kulturhauptstadt machen kann, ist eine Art kulturelles Oktoberfest übers ganze Jahr", warnt Wolfgang Lorenz, Intendant der diesjährigen Kulturhauptstadt Graz. 6000 Veranstaltungen und 108 Projekte hat die Stadt in der österreichischen Steiermark in den vergangenen zwölf Monaten hinter sich gebracht. Knapp drei Millionen Besucher kamen. Und irgendwie war für jeden Geschmack irgendetwas dabei.
Also doch Oktoberfest? Graz gilt wirtschaftlich als eine der erfolgreichsten Kulturhauptstädte: Das Festkomitee bilanziert ein Plus von 25 Prozent bei den Übernachtungen sowie eine schwarze Null beim Budget. Von den knapp 60 Millionen Euro zahlte die EU nur eine halbe Million. Dennoch: Die Stadt selbst ist pleite. Weit über 600 Millionen Euro fehlen im Stadtsäckel.
Kultur oder Tourismus?
Was den Grazern in jedem Fall erhalten bleibt vom Kulturstadtjahr, sind eine funkelnagelneue Stadthalle, eine Kunsthalle, ein Literaturhaus, ein Kindermuseum und eine Konzerthalle. Und wer bevölkert die, wenn in der Steiermark wieder der Alltag Einzug gehalten hat? "Die Kontinuität des 'cultural booms' ist fraglich. Leider sind nach einem Jahr Kulturstadt die Kassen für Kunst und Kultur oft leerer als zuvor", bringt Isabelle Schwarz von der European Cultural Foundation die Erfahrungen der meisten Kulturhauptstädte auf den Punkt. Auf längere Sicht profitierten wohl doch eher die Touristikunternehmen als die Künstler und Kulturschaffenden. "Natürlich gibt es auch die 'success stories' wie Glasgow, aber die sind leider eine Minderheit", so Schwarz.
Wozu eine "Kulturhauptstadt"?
Das Konzept "Kultur(haupt)stadt Europas" ist fast 20 Jahre alt. 1985 hatte die damalige griechische Kulturministerin Melina Mercouri die Idee, die Menschen und Völker Europas zusammenzubringen, indem sie sich auf ihre gemeinsamen kulturellen Wurzeln besinnen. Damals war das "gemeinsame Haus Europa" bei weitem noch nicht so offen und weltläufig wie heute: Der halbe Kontinent lebte hinter dem Eisernen Vorhang, es gab kein Internet, das Informationen in Sekundenschnelle in den hintersten Winkel bringt, an den Euro war nicht im entferntesten zu denken. Und auch nicht an die Billigflieger, die die Europäer schnell und preiswert von Land zu Land transportieren.
Zum gegenseitigen Kennenlernen hat die "Kulturhauptstadt" inzwischen ausgedient. "Aus der Bewerbung muss ein 'europäischer Mehrwert' herausspringen", sagt Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates. Er berät und unterstützt die 16 deutschen Bewerber, die 2010 "Kulturhauptstadt" werden wollen. Den 'Mehrwert' zu zeigen, daran sind allerdings viele der Städte bislang gescheitert. "Was die lokalen Auswirkungen, die Förderung eines gemeinschaftlichen, europäischen kulturellen Raums und die Förderung einer stärkeren europäischen, multikulturellen Identität angeht, ist die Bilanz eher negativ", sagt Isabelle Schwarz von der European Cultural Foundation.
Immer wieder dieselben Fehler
"Der Europagedanke ist noch sehr vage", meint auch die Chemnitzer Germanistin Ingrid Hudabiunigg. Der touristische Erfolg scheint wichtiger. "Viele Bewerberstädte haben historische Stadtzentren, die mit viel Geld 'aufgeschönt' werden", berichtet sie. "Aber nur die wenigsten zeigen auch ihre Widerborstigkeiten." Auch Genua nicht, kritisiert Hudabiunigg bereits, bevor das Kulturstadtjahr 2004 in der italienischen Hafenstadt überhaupt angefangen hat. "Genua setzt voll und ganz auf Hochkultur und seine reiche Vergangenheit", so Hudabiunigg. "Aber die Stadt ist auch das Einfallstor nach Italien für legale und illegale Migranten aus Afrika. Werden die einfach weggedrückt?!"