Wahlrecht verfassungswidrig
25. Juli 2012Es ist eine schwere Schlappe für die Regierungskoalition. Das Bundeswahlgesetz sei mit dem Grundgesetz "unvereinbar und nichtig", urteilte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Damit gibt es derzeit kein wirksames Recht für die Sitzverteilung bei Bundestagswahlen. Der Bundestag muss spätestens im Oktober nächsten Jahres neu gewählt werden. Bis dahin muss der Gesetzgeber ein neues Wahlrecht schaffen.
Die neue Regelung hatten Konservative (CDU/CSU) und Liberale (FDP) Ende 2011 gegen den Willen der Opposition im Deutschen Bundestag durchgesetzt. Sozialdemokraten (SPD) und Grüne klagten daraufhin ebenso wie mehr als 3000 Bürger. Hauptkritikpunkt waren die sogenannten Überhangmandate.
Kein einfaches Verfahren
Solche Parlamentssitze kommen zustande, wenn eine Partei mit Hilfe der Erststimmen mehr Direktmandate und damit Parlamentssitze erhält, als ihr durch das Zweitstimmen-Ergebnis insgesamt zustehen würden. Dadurch entspricht das tatsächliche Kräfteverhältnis praktisch nie dem konkreten prozentualen Ergebnis.
Überhangmandate gewinnen nämlich erfahrungsgemäß immer die größeren Parteien, weil bei der Wahl von Direktmandaten die einfache Mehrheit reicht. Bei der Bundestagswahl 2009 gingen alle 24 Überhangmandate an die CDU und CSU, die aber auch ohne diese zusätzlichen Sitze gemeinsam mit der FDP über eine Mehrheit verfügen.
Nicht nur Überhangmandate sind kompliziert
Das Verfassungsgericht urteilte nun, die Chancengleichheit der Parteien werde verletzt. In der Begründung spielte auch das sogenannte "negative Stimmgewicht" eine Rolle. So wird im Juristendeutsch das komplizierte Phänomen bezeichnet, dass eine Partei, trotz Stimmenzuwachs in einem Bundesland, kein weiteres Mandat gewinnt, in einem anderen Bundesland aber sogar einen Sitz verliert. Dieses paradoxe Ergebnis ist aufgrund eines komplizierten Verrechnens von Zweitstimmen und Überhangmandaten möglich.
Um die bekannten Probleme zu lösen, hatten die Verfassungshüter dem Gesetzgeber bereits in einem ähnlich gelagerten Verfahren 2008 aufgetragen, bis zum Juli 2011 eine neue Regelung zu verabschieden. Obwohl die Parteien also genug Zeit hatten, brachten sie die Reform des Bundeswahlgesetztes erst mit fünf Monaten Verspätung zustande. Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle veranlasste das zu deutlicher Kritik. Trotz einer "großzügig bemessenen Frist" von drei Jahren, eine Neuregelung zu treffen, sei das Ergebnis "ernüchternd", sagte der ranghöchste deutsche Richter. Diese Einschätzung sei "übereinstimmende Auffassung" des Zweiten Senats, der das Urteil unter Voßkuhles Vorsitz gefällt hat.
Parlamentspräsident Lammert ermahnt alle Fraktionen
Die Verfassungsrichter erwarten vom Gesetzgeber, den Anfall von Überhangmandaten auf einen Umfang zu beschränken, "der dem Grundcharakter der Bundestagswahl noch gerecht wird". Voßkuhle hält eine "zulässige Höchstgrenze von etwa 15 Überhangmandaten" für akzeptabel.
Es sei primär Aufgabe der Politik, der Parteien und des Parlaments, "unter Einhaltung der Gewährleistungen des Grundgesetzes ein neues Wahlrecht zu kreieren", betonte Voßkuhle.
Für die erneute Reform des Bundeswahlgesetzes bleibt der Politik nur gut ein Jahr bis zur nächsten Bundestagswahl, und damit wenig Zeit.
Der stellvertretende Regierungssprecher Georg Streiter verwies in Berlin auf die Zuständigkeit des Bundestages. Dessen Präsident Norbert Lammert (CDU) empfahl den Fraktionen, "eine möglichst einvernehmliche Lösung zu finden, um auch nur den Anschein einer Begünstigung oder Benachteiligung einzelner Parteien oder Kandidaten zu vermeiden".
SPD: Koalition hat Wahlrecht missbraucht
Die in Karlsruhe mit ihrer Klage erfolgreiche SPD freut sich mit den Worten ihres Parlamentarischen Geschäftsführers Thomas Oppermann über einen "guten Tag für unsere Demokratie und für die Bürgerinnen und Bürger". Die Koalition habe die Quittung dafür bekommen, dass sie das Wahlrecht "als Machtrecht missbraucht" habe. Allerdings weiß auch Oppermann, dass seine Partei in der Vergangenheit von Überhangmandaten profitiert hat. Bei der Bundestagswahl 2005 waren es neun und damit zwei mehr als bei der CDU.